Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
das Institut für tibetische Studien.«
    Shan spielte auf ein bevorzugtes Mittel zur Gleichschaltung abtrünniger tibetischer Führungspersönlichkeiten an, eine von Mao Tsetung ins Leben gerufene Lehranstalt, in der den Schülern die präzise Anwendung der maoistischen Doktrin beigebracht wurde. »Außerdem fallen mir ein halbes Dutzend medizinischer Einrichtungen ein, in denen ein erkrankter Lama sich ein oder zwei Jahre lang von einem Zusammenbruch erholen könnte. Aber da ist er auch nicht, genausowenig wie im Gefängnis. Er hat diese Region nicht verlassen.«
    »Er gehört in erster Linie der Armee«, knurrte Lin.
    »Sie meinen, er gehört der 54. Gebirgsjägerbrigade, dem früheren Kampfverband Lujun.«
    Der Oberst starrte ihn wütend an, als stelle allein diese Äußerung schon einen Verrat dar. Es war der alte Lin. Shan mußte daran denken, wie der Mann mit dem Mädchen umgegangen war. Vielleicht, so dachte er, gab es nun einen Lin für Anya und einen Lin für den Rest der Welt.
    »Er hat uns bestohlen.«
    »Ein Stück Stein.«
    »Und Militärgeheimnisse«, sagte Lin leise zu dem Baum.
    Shan hielt inne. Lin hatte endlich sein wahres Interesse an Tenzin und dem Stein eingeräumt und damit Shans und Winslows Verdacht bestätigt. »Tenzin hat für Militärgeheimnisse keine Verwendung.«
    »Was wissen Sie denn schon davon?« herrschte der Oberst ihn an. »Die Verräter, die den Mann unterstützen, haben durchaus Verwendung dafür. Womöglich war das der Preis, den die purbas für ihre Hilfe verlangt haben: Er sollte bei mir Geheimnisse stehlen, die sie dann gegen die Regierung verwenden können.«
    »Tenzin würde sich nicht auf so einen Handel einlassen.«
    »Das Motiv ist unwichtig. Er hat Geheimnisse gestohlen. Das ist Verrat.«
    Lin musterte ihn mit hämischem Grinsen. »Sie wissen doch, wie man in so einem Fall vorgeht. Kurzer Prozeß, schnelle Kugel. Ich lasse ihn vor ein Militärgericht stellen. Ganz geheim. Die anderen werden ihn immer noch entlang der indischen Grenze suchen, nachdem ich ihn längst in einem versteckten Grab in den Bergen verscharrt habe.«
    Shan erwiderte nichts, sondern betrachtete die Flechte, die an der Spitze des Asts wuchs. »Wenn Sie zurückkehren, Oberst«, sagte er schließlich, »werden Sie dann versuchen, ihn zu finden?«
    »Natürlich. Ich werde Tenzin aufspüren, und ich werde ihn mir holen, ganz egal, wer ihn gerade hat. Er gehört mir. Schon im Augenblick des Diebstahls war sein Leben verwirkt. Die Schreihälse können ihn nicht lange vor mir verstecken, denn sie haben sich in eine Welt begeben, die sie nicht verstehen. Sie werden sich einen anderen zahmen Abt suchen müssen.«
    Shan starrte ihn nachdenklich an. Ihm wurde auf einmal klar, daß Lin unter Umständen recht hatte. Es würde Khodraks und Tuans seltsames Verhalten sowie den Streit zwischen den Schreihälsen und den Kriechern erklären. Auch die spätere Auseinandersetzung zwischen den Schreihälsen und den Soldaten in Yapchi. Sie wagten sich in die Welt der öffentlichen Sicherheit und der Staatsgeheimnisse vor, die dem Büro für Religiöse Angelegenheiten für gewöhnlich verschlossen blieb. Auch im modernen China gab es verborgene Länder.
    »Sobald Sie wieder halbwegs sicher auf den Beinen sind, dürfen sie gehen«, sagte Shan müde. »Aber das könnte noch einige Tage oder sogar eine Woche dauern.«
    Lin sah ihn erneut an, rieb sich die Schläfe und blinzelte. Als müsse er sich anstrengen, die Rolle des feindseligen Obersts aufrechtzuerhalten, so wie Jokar darum gekämpft hatte, seinen Körper nicht aufzugeben.
    »Und daher sollten Sie einen Brief schreiben«, schlug Shan vor.
    »Keine Abmachungen, das habe ich Ihnen schon gesagt. Die Entführung eines Offiziers bedeutet lao gai. Oder ein Exekutionskommando. Ohne Pardon.«
    »Vielleicht möchten Sie ja jemandem ein Lebenszeichen zukommen lassen.«
    »Ich habe keine Familie.«
    »Die Soldaten Ihrer Einheit suchen nach Ihnen und halten Sie bestimmt für tot. Vielleicht möchten Sie Direktor Tuan und den Schreihälsen, in deren Gewalt Tenzin sich befindet, einige Anweisungen übermitteln.«
    Dieser Vorschlag schien Lin zu gefallen. Ein eisiges Funkeln kehrte in seinen Blick zurück. »Warum liegt das in Ihrem Interesse?«
    »Weil es ein Akt des Mitgefühls wäre, Ihre Soldaten von der Sorge zu befreien«, behauptete Shan. »Weil die Reaktionen auf einen solchen Brief mir verraten könnten, wo mein Freund steckt, der zusammen mit Tenzin verhaftet

Weitere Kostenlose Bücher