Das tibetische Orakel
einmal die Melodie mit. Es war seltsam, aber die amerikanische Geologin schien das Lied zu kennen. Eine ganze Weile verging, bis der Lama plötzlich die Finger einer Hand hob. Jokars Körper ruckte ein Stück vor und kippte wieder zurück.
Shan wußte, wie jemand in tiefer Meditation aussah; er hatte es sogar schon am eigenen Leib erlebt, aber das hier war nicht das gleiche. Jokar befand sich an einem anderen Ort. Die Augen des Lama öffneten sich, in ihnen schien jedoch kein Leben zu liegen. Sie funkelten vor Energie und verblaßten. Shan erschrak. Jokars Blick war glasig. Seine Finger streckten und krümmten sich, als würden sie irgendwo hochklettern. Die Mantras im Hintergrund der Kammer wurden lauter. Die purbas waren in den Singsang eingefallen. Melissa Larkin brachte eine Schale Tee und preßte das warme Gefäß vorsichtig gegen den Arm des Lama. Seine Lider zuckten erneut, und seine Hand schien mitten in der Luft nach etwas greifen zu wollen.
Jokars Mund öffnete und schloß sich. Er legte den Kopf in den Nacken und biß die Zähne zusammen, als müsse er gegen irgend etwas ankämpfen.
Alle im Raum verstummten abermals.
»Es ist, als würde er versuchen, aus einem tiefen Schlaf zu erwachen«, flüsterte Lhandro.
Doch Shan wußte, daß es sich anders verhielt. Jokar war nicht gestorben, aber er hatte sich bis zum Rand des Todes begeben. Oder umgekehrt: Der Tod hatte ihn irgendwie holen wollen, und Jokar schickte ihn wieder weg. Der uralte Körper hatte eine Zeitlang jeglichen Widerstand aufgegeben, aber die Essenz dessen, was Jokar war, wehrte sich, als habe sie noch etwas zu erledigen. Lepka stimmte ein Mantra an, das Shan noch nie zuvor gehört hatte - ein flehentliches Mantra, in dem immer wieder der Name Yamantakas, des Herrn der Toten, vorkam.
Dann kreischte noch einmal der Lämmergeier; es klang, als würde der Vogel direkt auf den Felsen über ihren Köpfen sitzen. Fast im selben Moment kehrte das Leben in den Blick des Lama zurück und blieb. Jokar war wieder bei ihnen.
Winslow stieß einen seiner Cowboyschreie aus, und die Augen des Lama-Heilers öffneten sich zu voller Größe. Er war nun vollständig bei Bewußtsein und lächelte dem Amerikaner dankbar zu, als habe dessen Gejohle ihn zurückgeholt. Danach gab vorerst keiner mehr einen Laut von sich, bis sich hinter ihnen unvermittelt etwas bewegte. Shan drehte sich um und sah Lin dort im Schatten stehen. Wie lange stand der Oberst schon da? fragte sich Shan. Hatte Lin begriffen, was geschehen war? Hatte es überhaupt jemand begriffen?
Jokar atmete tief durch. Nyma gab ihm den Tee zu trinken.
Als Shan aufstand, hatte Lin sich bereits wieder nach draußen zurückgezogen und betrachtete den knorrigen Wacholderbaum, als rechne er damit, daß der Baum ihm ein bedeutendes Geheimnis enthüllen oder vielleicht einen Vogel anlocken würde, der ihm zuhören könnte. Shan sah, daß die beständige Wut aus den Augen des Obersts gewichen war. In mancherlei Hinsicht handelte es sich nicht mehr um denselben Lin, den sie vor zwei Wochen zum erstenmal kennengelernt hatten. Shan wußte jedoch, daß der aufbrausende, blindwütige Lin weiterhin existierte und dicht unter der Oberfläche jenes verwirrten Mannes lauerte, der nun im Schatten des Baumes saß.
»Was dieser alte Mann getan hat.«, sagte Lin leise, als Shan sich neben ihn setzte. »In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, hätte man ihn dafür einen Hexer genannt.«
»Es geht nicht«, erwiderte Shan und legte eine Hand auf das Ende eines der verdrehten Äste. »Man kann die Tibeter nicht mit den Dingen erklären, die wir in unserer Jugend in China gelernt haben.«
Lin stieß ein mürrisches Schnauben aus.
»Das Büro für Religiöse Angelegenheiten hat Tenzin verhaftet«, sagte Shan plötzlich. »Direktor Tuan.«
»Dieser Tuan? Er war nicht befugt.«, rief Lin aus. Dann biß er die Zähne zusammen. »Alles nur, weil ich nicht da war.«
Shan sah ihn an und nickte. »Tenzin war Ihre Mission. Nicht die von Tuan.«
»Wir alle stehen im Dienst der Volksregierung«, murmelte Lin.
»Aber Tuan hat Tenzin nicht an die Volksregierung übergeben.«
»Das können Sie gar nicht wissen.«
»Er ist nicht nach Norden und nicht nach Süden gefahren. Und einen Hubschrauber hat er auch nicht benutzt.«
»Spione«, zischte Lin. »Wer Regierungsgeheimnisse ausspäht, wird hingerichtet.«
Shan ignorierte die Drohung. »Ich glaube, die Regierung hat mit dem Abt von Sangchi etwas anderes vor. In Peking gibt es
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