Das tibetische Orakel
und ein paar Yakhaaren, die er sich von einem dropka geliehen hat, der gerade sein Zelt flicken wollte.«
Shan erinnerte sich daran, wie schwach Drakte bei seiner Ankunft gewirkt und wie er sich an die Wand gelehnt hatte, bevor er auf die Mitte des Raums zugewankt war. Die dropka-Wächterin sagte, er sei an Felsvorsprün- gen stehengeblieben, als würde er nach jemandem Ausschau halten. Doch das war nicht der Grund für die Pausen gewesen, davon war Shan mittlerweile überzeugt. Drakte hatte innegehalten, um sich auszuruhen und Kraft zu sammeln, damit er die Einsiedelei erreichen würde. Den Angreifer glaubte der junge Tibeter längst abgeschüttelt zu haben, denn er hatte sich einige Stunden zuvor sogar Zeit genommen, die Wunde zu nähen.
Die purba-Läuferin beugte sich dicht zu Draktes Kopf vor und schien dem Toten etwas ins Ohr zu flüstern. Als sie sich wieder aufrichtete, liefen ihr noch mehr Tränen die Wangen hinunter. Shan mußte daran denken, wie sie oben auf dem Kamm ihre Frisur gerichtet hatte.
Schweigend saßen sie da und sahen Lokesh dabei zu, wie er behutsam das Blut von der Wunde wusch und den Hemdschoß darüber legte. Tenzin ging ihm weiterhin zur Hand und hielt die Wasserschüssel, aber dann erstarrte er plötzlich, keuchte vernehmlich auf, stellte mit zitternden Fingern die Schale ab und musterte erneut den Toten. Er wich zurück und lehnte sich an die Wand. Sein Gesicht war auf einmal vom Kummer gezeichnet. Der Blick der Läuferin verklärte sich, und sie schien die anderen zu vergessen. Ihr Arm hob sich von neuem, und dann fuhr sie mit einem Finger die lange geschwungene Narbe auf Draktes Stirn nach, legte ihm die hohle Hand auf die Wange und strich beiläufig ein weiteres Mal über die Narbe. Die Geste wirkte intim, wie ein Ausdruck der Zuneigung, den der Tote noch immer wiedererkennen würde.
»Du wärst so ein Lama gewesen«, hörte Shan sie flüstern. »Du wärst hundert Jahre alt geworden und hättest die wahre Lehre weitergegeben.«
Sie legte ihm die Hand auf die Wange. »Wer werden die Alten sein, wenn eigentlich deine Zeit käme?« fragte sie den Leichnam. Langsam sank die Hand herab, und als die Frau sich umdrehte, klang ihre Stimme kühl und ruhig, obwohl ihr Tränen in den Augen standen. »Was meinst du damit, er wurde mit einem Fluch belegt?« fragte sie den dropka.
»Ein Dämon ist gekommen und hat Worte der Macht gesprochen«, warf jemand hinter Shan ein. Der golok stand im Eingang. »Wir kennen den Grund«, sagte er höhnisch zu Lokesh und Gendun. »Der Dämon will nicht, daß schon wieder ein Chinese das Auge nimmt.«
Shans Blick wanderte überrascht von dem golok zu Lokesh, den die Worte genauso zu verwirren schienen. Der alte Tibeter zuckte entschuldigend die Achseln, sah den Mann an und runzelte die Stirn. »Kein Dämon«, sagte er. »Ein dobdob. Falls es ein Dämon gewesen wäre, würde er zurückkommen und dich holen, weil du dich in der Nähe eines Toten so respektlos aufführst.«
Verblüfft starrte Shan seinen alten Freund an. Es sah Lokesh gar nicht ähnlich, jemanden zurechtzuweisen. Der golok tat mit theatralischer Geste, als würde er zusammenzucken, drehte sich um und verließ die Hütte.
Sie säuberten den Leichnam so gut sie konnten, entzündeten weitere Butterlampen und gingen hinaus. An der Tür zögerte Shan, weil er unbedingt mit Gendun sprechen und sicherstellen wollte, daß der Lama bereit sein würde, mit ihnen zu fliehen. Doch Gendun setzte unbeirrt den Bardo-Ritus fort und blickte inzwischen in eine der Flammen neben Drakte. Der Tibeter hatte fast sein gesamtes Leben in einem verborgenen Kloster zugebracht, das in eine Bergwand gemeißelt worden war, und vor Shan noch nie einen Chinesen kennengelernt. Das lag nun ein Dreivierteljahr zurück. Und erst vor vier Monaten hatte der Lama die Abgeschiedenheit seiner Klause zum erstenmal seit vielen Jahrzehnten verlassen. Vor allem an eines könne er sich in der Außenwelt nicht gewöhnen, hatte er Shan bekümmert anvertraut, nämlich daran, daß viele gute Menschen starben, ohne ihre Seelen darauf vorbereitet zu haben, so als hätten sie die Gabe der menschlichen Inkarnation nicht ernst genommen.
Als er nach draußen trat, stellte Shan erleichtert fest, daß der golok bei einem gedrungenen grauen Pferd stand und offenbar Reisevorbereitungen traf. Der dropka - Wächter hockte windgeschützt zwischen zwei der Gebäude an einem kleinen Feuer, bereitete Buttertee zu und warf besorgte Blicke zu dem Bergkamm,
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