Das tibetische Orakel
auf dem seine Schwester immer noch Steine aufschichtete. Lokesh, Shan und die purba -Läuferin nahmen neben dem Mann Platz, und er reichte jedem eine Schale Tee.
»Eines verstehe ich nicht«, sagte Shan zu Lokesh. »Du weißt, wer das letzte Nacht war? Ein dobdob , hast du gesagt. Diesen Begriff habe ich noch nie zuvor gehört.«
»Nicht wer, sondern was er war«, erwiderte Lokesh mit großen Augen. »Ein Mönchspolizist. Ein dobdob wacht über die Tugenden und fordert Respekt für die Lamas ein. Als ich noch ein Junge war, hatten alle großen gompas diese Männer, und als ich zum erstenmal einen davon zu Gesicht bekam, habe ich ihn ebenfalls für ein Ungeheuer gehalten. Die Wangen mit Asche geschwärzt. Das breite Kreuz. Sie legen sich unter ihren Gewändern manchmal besondere Bretter auf die Schultern, um übermenschlich groß zu wirken. Ich habe mich damals bei dieser ersten Begegnung hinter meinem Vater versteckt, bis der dobdob verschwunden war. Und seit mindestens vierzig Jahren habe ich keinen mehr gesehen«, fügte der alte Tibeter mit entrücktem Blick hinzu. Als früherer Bediensteter der Regierung des Dalai Lama hatte Lokesh nahezu sein halbes Leben im Arbeitslager verbracht. »Bei großen Zusammenkünften sorgten sie für Ordnung unter den niederen Rängen. Mit ihren Stäben und den Peitschen aus Yakleder verschafften sie den Vorschriften des Abtes Geltung und halfen den Mönchen, ihre Gelübde einzuhalten. Falls ein Novize vorlaut das Wort ergriff, brachte eine Kopfnuß mit dem Stab ihn schnell wieder zum Schweigen.«
»Aber hier?« fragte die purba. »Letzte Nacht? Das ist unmöglich. Es gibt sie nicht mehr.«
»Der Geist eines dobdob« , sagte der dropka , nicht ängstlich, sondern mit einer gewissen Ehrfurcht. »Er ist einfach aufgetaucht, hat Drakte bestraft und sich dann wieder verflüchtigt, so wie Geister es nachts eben tun. Er will uns nicht hier haben. Das nächste Mal«, sagte er trübsinnig zu der Läuferin, »wenn die purbas hier Wachposten brauchen, sollen sie gefälligst jemand anders fragen.«
»Sein Bauch wurde ihm nicht von einem Geist aufgeschlitzt«, sagte Shan. »Es war kein Geist, der ihn angegriffen und durch die Berge gehetzt hat.«
»Drakte hat uns gewarnt, er habe ihn töten gesehen«, flüsterte der Nomade. »Wir sahen den, von dem er gesprochen hatte, und kurz darauf war auch Drakte tot.«
Die purba sah in ihre Teeschale. »Die Läufer waren Draktes Idee«, sagte sie gedankenverloren, als schulde sie dem Toten einen Nachruf. »Er hat dafür gesorgt, daß ich andere trainieren konnte. Man sperrte ihn ein, weil er am Geburtstag des Dalai Lama eine Demonstration in Lhasa angeführt hat. An jenem Tag habe ich ihn kennengelernt, habe Lieder mit ihm gesungen und gesehen, wie die Soldaten ihn fortzerrten. Später habe ich ihn im Gefängnis besucht und ihn abgeholt, als er freigelassen wurde. Einen Monat lang hat er nichts anderes gemacht, als Nahrungsmittel zu sammeln und sie den Familien seiner Zellengenossen zu bringen.«
Sie hob den Kopf. »Was wird mit ihm geschehen?«
Ihr standen erneut Tränen in den Augen.
»Wir treffen die nötigen Vorkehrungen.«
Der dropka legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. »Auf einem Berggipfel oberhalb des heiligen Sees befindet sich ein durtro. Wenn es soweit ist, bringen wir ihn dorthin.«
Ein durtro. Der Hirte meinte einen Ort für Himmelsbegräbnisse, einen Totenplatz, an dem die ragyapas , die Leichenzerleger, die sterblichen Überreste zerteilen und an die Geier verfüttern würden. Drei Tage nach seinem Tod, wenn der Körper angemessen gesegnet war, würde man Drakte zum durtro tragen und in Stücke hacken, um ihn wieder in den Lebenskreislauf einzugliedern. Sogar seine Knochen würde man zerstampfen, damit die Vögel sie verzehren konnten.
»Laßt nicht zu, daß die Chinesen ihn holen«, bat die purba flehentlich. »Sie dürfen es nicht erfahren.«
Der dropka nickte ernst.
Die Frau sah zu Shan, wich seinem Blick aber sogleich wieder aus. »Ich heiße Somo«, sagte sie leise. Das war ihre Art, sich zu entschuldigen. Ungeachtet dessen, was sie von anderen Chinesen hielt, brachte sie ihm durch ihren Namen Vertrauen entgegen, weil auch Drakte dies getan hatte.
»Ich heiße Shan.«
Sie nickte. »Ich habe sogar schon von Ihnen gehört, als Sie noch im Gefängnis saßen.«
»Waren Sie mit Drakte in Lhadrung?« fragte Shan.
Somo schüttelte den Kopf. »Ich bin meistens in Lhasa geblieben. Er hat viel Zeit dort verbracht.
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