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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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weiß, daß wir uns auf den Weg machen müssen.«
    »Was ist mit Gendun?« wandte Shan ein. »Er muß mit uns kommen.«
    Lokesh schüttelte betrübt den Kopf. »Er muß vorerst bei Drakte bleiben. Er wird ihn zum durtro begleiten und danach zu uns stoßen, falls die Götter es erlauben.«
    Er drehte sich um, nahm etwas vom Sattel eines der Pferde und gab es Shan. Es war ein Filzhut mit breiter Krempe, Shans Reisehut.
    »Ich bleibe auch bei Drakte«, verkündete Somo sonderbar trotzig. »Und ich werde dafür sorgen, daß eurem Lama nichts zustößt. Die Hirten aus dem Lager da oben schichten rund um die Einsiedelei kleine Haufen Yakdung auf. Heute nacht werden wir von Feuern umgeben sein.«
    Als der dropka Shan die Zügel des braunen Pferdes reichte, trat der golok von seinem eigenen Reittier zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte sie alle nachdrücklich an, als hätten sie etwas vergessen. »Man hat mir eine Bezahlung versprochen«, sagte er mürrisch. »Ein Führer muß entlohnt werden. Dieser tote Junge sagte, man würde mich bezahlen. Bislang habe ich noch keinen einzigen Fen erhalten.«
    Shan sah den Mann beklommen an. Der golok hatte endlich erklärt, weshalb er hergekommen war.
    »Ich habe nichts«, sagte Nyma beunruhigt. »Drakte hatte auch nichts bei sich, abgesehen von einem alten Geschäftsbuch und der Schleuder eines Schäfers.«
    Sie hatten das zerfledderte Buch in einem Beutel an seinem Gürtel gefunden, mit Einträgen, die wie Kontobewegungen aussahen. »Er muß wohl gemeint haben, daß jemand an eurem Zielort.«
    »Drakte wußte genau Bescheid«, fiel der golok ihr ins Wort. »Ich lege mich doch nicht mit den Patrouillen an, wenn dabei kein Gewinn für mich herausspringt.«
    Somo griff in ihre kleine Gürteltasche, holte einen in Filz gewickelten Gegenstand daraus hervor und streckte ihn dem golok entgegen. »Hier«, sagte sie zögernd und schlug das Filztuch auf. Darin lag ein zierlicher Silberarmreif mit eingearbeitetem Lapislazuli. »Drakte hat ihn mir letzten Monat gegeben. Er würde wollen, daß eure Reise weitergeht. Deshalb hat er ja.«
    Sie wandte sich zu der Totenhütte um und beendete den Satz nicht.
    Der golok griff nach dem Schmuckstück und betrachtete es stirnrunzelnd. »So etwas läßt sich nur schwer zu Geld machen, ohne eine verdammte Stadt aufzusuchen«, klagte er, obwohl er den Armreif bei diesen Worten einsteckte. »Und ich werde mich ziemlich lange nicht mehr in einer Stadt blicken lassen.«
    Die purba-Läuferin griff noch einmal in ihren Beutel und brachte ein Taschenmesser mit vielen Klingen zum Vorschein, an dessen einer Seite sogar ein Löffel eingeklappt war. »Das habe ich für Drakte gekauft«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme und gab es dem Mann.
    Der golok nahm das Messer und die Zügel seines Pferdes mit beinahe einer einzigen Bewegung.
    »Wir kennen nicht mal deinen Namen«, wagte Shan vorsichtig zu äußern. Er sah, daß Somo noch etwas in der Hand hielt: einen kleinen türkisfarbenen Stein. Ein weiteres Geschenk von Drakte, das sie allerdings anscheinend nicht hergeben wollte.
    Der golok nahm Shan wiederum stirnrunzelnd in Augenschein. »Meine Mutter hat mich Dremu genannt«, sagte er, als hätte er in seinem Leben schon viele Namen besessen. Shan und Lokesh sahen sich besorgt an. Dremu war der Name des großen Braunbären, der einst ungehindert das tibetische Hochland durchstreifen konnte. Inzwischen hatten die Chinesen ihn fast ausgerottet. In der tibetischen Überlieferung galt er als Symbol übermäßiger und selbstzerstörerischer Gier, denn der Bär wühlte sich tief in die Bauten seiner Hauptbeute, der Murmeltiere, zog die betäubten Opfer heraus und häufte sie hinter sich auf, bis die gesamte Höhle zerstört war. Meistens kamen die Murmeltiere wieder zu sich und konnten fliehen, während der Bär noch grub, so daß er hungrig und noch viel wütender zurückblieb. Bisweilen bezeichneten die Tibeter auch die Chinesen mit diesem Begriff.
    Als Tenzin und Nyma ihre Pferde zum Pfad führten, goß Shan eine Schale Tee ein und betrat die Hütte, in der Gendun bei dem Toten saß. Schweigend verharrte er einen Moment, bis der Lama den Kopf hob und ihn mit einem kleinen Nicken begrüßte. Nach einer weiteren Minute der Rezitation stand Gendun auf und entfernte sich von dem Leichnam.
    Der Lama nahm die Schale und trank einige Schlucke, bevor er das Wort ergriff. »Er ist ohne Schmerz oder Angst gestorben«, verkündete Gendun mit Blick auf den

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