Das tibetische Orakel
chinesische Bücher. Und ich sagte, nein, ich werde die tibetischen Kinder in ihrer Muttersprache unterrichten, denn das ist es, was eine tibetische Musterbürgerin tun sollte.«
Sie hob die Flasche und trank einen großen Schluck. »Eines Tages kam ich zu meiner Schule, und eine chinesische Lehrerin hatte meine Klasse übernommen. Mein Büro war leergeräumt, und sogar all meine Medaillen waren weg.«
Sie schaute zu der Einsiedelei hinunter, dann wieder zu Shan. »Doch meine Beine habe ich behalten.«
»Und nun laufen Sie für die purbas.«
»Ich gelange an Orte, die weder per Pferd noch per Auto zu erreichen sind.«
»Einepurba lunggompa.«
Die Frau zuckte ungehalten die Achseln, als wolle sie nachdrücklich betonen, wie wenig seine geistreiche Bemerkung sie beeindruckte. Kurz darauf wandte sie sich in die Richtung um, aus der sie gekommen war.
»Werden Sie verfolgt?« fragte Shan.
»Ich muß mit Drakte sprechen«, sagte sie.
»Er ist...«:
Shans Zunge schien plötzlich wie gelähmt zu sein.
Die Frau wartete sein nächstes Wort gar nicht mehr ab, sondern stand auf und eilte mit langen Sprüngen den Hang hinunter, die Flasche noch immer in der Hand.
In der Totenhütte holte Shan sie wieder ein. Sie lehnte bleich an der Wand, hielt sich den Bauch und starrte den Leichnam an. Die Wasserflasche lag zu ihren Füßen, und der letzte Rest des Inhalts tröpfelte heraus. Lokesh und Tenzin saßen mit einer Schüssel Wasser und einem Lappen bei dem Toten und wuschen ehrfürchtig Draktes Glieder. Der Bruder der Frau auf dem Kamm entzündete Weihrauchstäbchen. Gendun saß im Schatten und setzte mit geschlossenen Augen leise die Bardo-Riten fort.
Shan hob die Wasserflasche auf. »Sollten Sie ihm eine Nachricht überbringen?« fragte er flüsternd.
Die Frau reagierte nicht. Sie ging zu dem Toten, kniete nieder und streckte langsam die Hand nach Draktes Gesicht aus, als wolle sie dessen Wange berühren. Im letzten Moment zog sie die Finger wieder zurück. »Wer?« fragte sie mit zittriger Stimme. »Wer hat gesehen, was passiert ist? Wer hat das getan?«
Ihr Blick richtete sich auf Shan. Jeder wußte, wer purbas tötete.
»Wir alle haben mit angesehen, wie er getötet wurde«, sagte der dropka schaudernd. »Man hat ihn mit einem Fluch belegt, und sein Blut strömte aus dem Körper.«
»Nein«, widersprach Shan. »Niemand hat gesehen, wie er getötet wurde. Wir haben ihn lediglich sterben gesehen. Ein Fremder ist gekommen und hat ihn mit einem Stab in den Bauch geschlagen - allerdings nicht hart genug, um eine solche Blutung zu verursachen.«
Er erwiderte den eisigen Blick der Frau, bis sie die Hand hob, um eine Träne wegzuwischen. »Unsere Wächterin vom Berggrat sagt, Drakte habe sich merkwürdig benommen und im Tal immer wieder angehalten«, fügte er sanfter hinzu. »Ich glaube, der Grund dafür war, daß man ihn bereits verletzt hatte.«
Shan ging näher heran, kniete sich neben Lokesh und griff nach dem blutbefleckten Hemdschoß. Letzte Nacht war er zu schockiert gewesen, um die Leiche zu untersuchen. Nun brauchte er Gewißheit. Er hob das Hemd an und schlug es zurück, um den rechten Teil des Unterbauchs freizulegen. Dort klaffte eine zehn Zentimeter lange Wunde, von der aus eine Spur aus geronnenem Blut über die Hüfte nach unten verlief. Shan fiel wieder ein, wie unnatürlich hart ihm der Bauch des purba vorgekommen war, als er geholfen hatte, Drakte auf die Decke zu heben.
»Man hat ihn erstochen!« stöhnte die Frau.
»Aber nicht gestern abend«, sagte Shan und wies auf einige Fäden an den Wundrändern. Jemand hatte versucht, die Verletzung provisorisch zu vernähen. »Die Wunde ist schon älter und reicht bis tief in die Organe.«
Die primitive Naht war aufgeplatzt, vermutlich durch die Schläge mit dem Stab.
Die Frau stieß ein wehklagendes Geräusch aus und brach dann unvermittelt ab. »Letztes Jahr«, sagte sie nach einem Moment mit bebender Stimme. »Als wir oberhalb eines Armeestützpunkts in den Felsen geklettert sind, hat Drakte sich an einer scharfen Kante den Arm aufgeschlitzt.«
Sie schob Draktes linken Ärmel hoch, so daß man an seinem Unterarm eine grobe, etwa fünfzehn Zentimeter lange Narbe sehen konnte. »Als ich sagte, er soll zum Arzt gehen, hat er nur gelacht und behauptet, gute tibetische Ärzte seien schwer zu finden und in chinesischen Krankenhäusern würden einem Tibeter üble Dinge zustoßen. Also hat er die Wunde einfach selbst genäht. Bloß mit einer großen Nadel
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