Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
eine Träne rann über ihre Wange.
    Einen Moment lang sah Shan dem Lama hinterher. »Falls da Hunde waren, hielten sich letzte Nacht vielleicht Hirten am Ausgang des Tals auf«, sagte er. »Jemand könnte sich auf die Suche nach ihnen machen und sie befragen. Ich muß bei Gendun bleiben, aber wir müssen wissen, was gestern da draußen passiert ist.«
    Als die Frau nicht erkennen ließ, ob sie ihn gehört hatte, machte Shan sich auf den Rückweg zum Serpentinenpfad, während die verzweifelte dropka wieder anfing, Steine aufzuschichten. Vor dem Abstieg zur Einsiedelei blieb er stehen und ließ den Blick über die weite zerklüftete Landschaft schweifen. Hinter den niedrigen Felsgraten auf der anderen Seite des Tals sah er eine weitere, höhere Bergkette vor dem leuchtenden Blau des Himmels, deren schneebedeckte Gipfel in der Morgensonne blendend weiß erstrahlten. Genau so fühlte er sich. Ganz gleich, wie sehr er sich bemühte und wie hoch er auch kletterte: Immer wenn er einen neuen Gipfel erklomm, eine neue Erkenntnis gewann oder die Beziehung zu seinen Lehrern vertiefen konnte, ragte ein weiterer Berg vor ihm auf und verstellte ein neues Hindernis oder Geheimnis seinen Weg.
    Lokesh hatte dies einmal als den Kern von Shans Dasein beschrieben. »Dinge, die wir als unausweichliche Wendungen unseres Lebenswegs betrachten, sind für dich Rätsel, die ergründet und verstanden werden müssen. Das ist deine Art, dir selbst etwas beizubringen«, hatte sein Freund mit einem Anflug von Verwunderung hinzugefügt.
    Doch das beinhaltete, daß Shan dabei etwas lernte und sein Wissen erweiterte. Er hingegen hatte den Eindruck, immer wieder schonungslos erfahren zu müssen, wie wenig er doch wußte.
    Als er sich nun in Richtung der Einsiedelei wandte, registrierte er eine Bewegung im Tal. Eine schwarze Gestalt rannte unglaublich schnell den Pfad entlang, so schnell, daß Shan abermals erschrak. War das etwa dieselbe unnatürliche Kreatur, die Drakte in der lhakang überfallen hatte? Er kauerte sich in das niedrige Gras und beobachtete ängstlich, wie tief unter ihm Shopo stehenblieb und der Gestalt entgegenblickte. Die dropka bei dem Steinhaufen stöhnte laut auf und nahm ihr Horn. Im nächsten Moment starrte sie verwirrt nach unten. Die alten Tibeter erzählten sich Geschichten von geheimnisvollen Läufern, genannt lunggompas , die pro Tag Hunderte von Kilometern zurücklegen konnten, indem sie ihren Körper darauf trainierten, jegliche Erschöpfung zu ignorieren.
    Auf Höhe von Shopo verringerte die Gestalt kurz ihr Tempo und erklomm dann den Hang, auf dessen Kamm Shan stand und hinter dem die Einsiedelei lag. Die dropka ließ das Horn sinken. Der Fremde hatte den Lama mit dem Bündel Sand weder angegriffen noch anderweitig behelligt. Shan setzte sich auf einen Felsen am Wegesrand und wartete. Der Läufer, der einen schwarzen Trainingsanzug mit Kapuzenjacke trug, entdeckte Shan aus fünfzehn Metern Entfernung, wurde langsamer, näherte sich ihm schweigend und ließ sich im Lotussitz vor ihm nieder. Dann holte der Fremde eine Wasserflasche hervor, die an einem Gürtel unter dem Anzug hing, trank einen Schluck und schlug die Kapuze zurück.
    Es war eine junge Tibeterin mit schmalem Gesicht und eindringlichen schwarzen Augen. »Sie müssen der Chinese sein.«
    Sie sprach mit ernster Stimme und atmete tief durch, wenngleich sie nicht nach Luft rang, womit nach einem so steilen Aufstieg eigentlich zu rechnen gewesen wäre. Nachdem sie ihn eine Weile betrachtet hatte, löste sie ihre beiden hochgesteckten Zöpfe, als sei ihr auf einmal ihr Aussehen wichtig. »Ich suche nach Drakte.«
    »Sie sind eine purba« , stellte Shan fest.
    »Ich bin Lehrerin«, gab die junge Frau scharf zurück.
    »Hier sind aber keine Kinder«, merkte Shan ruhig an.
    Die Frau musterte ihn mit kaltem, herausforderndem Blick. »Die Chinesen haben zu mir gesagt, geh zur Universität und werde Lehrerin, werde ein Vorbild für die tibetische Jugend.«
    Sie hielt seinem Blick gelassen stand. »Also bin ich auf die Universität gegangen. Sie sagten, trainier bei den Leichtathleten, damit wir eine tibetische Langstreckenläuferin bekommen, die an den chinesischen Meisterschaften teilnehmen kann. Ich habe in Peking Medaillen gewonnen und bin in meinen Heimatbezirk zurückgekehrt, um die gewünschte Musterbürgerin zu sein. Aber nach einem Jahr als Lehrerin sagte man mir, es dürfe keinen Unterricht auf tibetisch mehr geben, sondern nur noch die chinesische Sprache und

Weitere Kostenlose Bücher