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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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habe in solchen Nächten schon oft bei unseren Herden gesessen und mit meiner Schleuder nach Wölfen und Schneeleoparden Ausschau gehalten. Wenn es nicht bewölkt ist, kann ich bei diesem Licht sehr weit sehen. Ich wußte, daß jemand sich näherte. Als er den Grund des Tals erreichte, konnte ich ihn deutlich erkennen, weil er einige kleinere Schneeflächen durchqueren mußte. Er war allein. Aber zuerst habe ich die Hunde gehört.«
    »Die Hunde?«
    »Unten aus dem Tal. Da an der Biegung bellten Hunde, obwohl ich dort in all diesen Wochen noch keinen Hund entdeckt hatte.«
    Sie wies auf mehrere große Felsvorsprünge in etwa anderthalb Kilometern Entfernung. »Also sah ich genauer hin. Im ersten Moment dachte ich, es könnte Tenzin sein.«
    »Tenzin?« fragte Shan überrascht.
    »Er geht nachts manchmal weg. Vor zwei Tagen zum Beispiel und einmal auch letzte Woche. Ich glaube, er sucht sich Orte, an denen er im Mondschein beten kann.
    Es gibt Gebete, die nur nachts gesprochen werden sollten, und Dinge, die man am besten nur dem Mond erzählt.«
    Die Frau sah Shan durchdringend an, schüttelte dann den Kopf und schaute wieder zurück ins Tal. »Ich habe überhaupt nicht mit Drakte gerechnet, sonst hätte ich keinen Alarm gegeben. Wenn er auf Hunde traf, blieb er immer stehen und sprach mit ihnen, also hätten sie nicht so laut gebellt. Und ich kannte seinen Schritt. Er ging immer gerade und stolz wie ein Krieger. Letzte Nacht aber hat er sich so seltsam verhalten, lief erst offen sichtbar durch das Mondlicht und blieb dann mehrere Male an Felsvorsprüngen stehen, als wolle er sich verstecken und jemandem auflauern.«
    »Oder sich vergewissern, ob er verfolgt wurde.«
    Vor seinem inneren Auge ließ Shan Revue passieren, wie Drakte die Kammer betreten hatte, nur wenige Sekunden vor dem Eindringling. Nein, der purba war beim Anblick des riesigen Mannes mit dem Stab sichtlich erschrocken. Er hatte nicht mit ihm gerechnet, hatte keinen Verfolger erwartet. Es mußte einen anderen Grund für seine Pausen bei den Felsen gegeben haben, eine andere Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten.
    »Als er am Ende den Hang hinaufkam und dich sah, was hat er da gesagt?«
    »Als er den Grat erreichte, habe ich ihn erkannt und gewinkt. Er hat nichts gesagt, sondern nur auf die Einsiedelei gedeutet. Ich bin dann mit ihm nach unten gestiegen, weil ich doch das Hornsignal gegeben hatte und nicht wollte, daß die anderen sich Sorgen machen und mit Schwierigkeiten rechnen würden...«:
    Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie hatte ihren Posten verlassen, um Bescheid zu geben, daß keine Gefahr drohte, und dadurch der eigentlichen Gefahr den ungehinderten Zutritt ermöglicht.
    »Dieses Wesen war ein mächtiger Dämon, sonst hätten wir den Speer erkannt.«
    Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.
    »Speer? Da war kein Speer?«
    »Du konntest ihn natürlich nicht sehen, keiner von uns konnte das. Aber wir alle haben gesehen, wie Drakte erstochen wurde. Der Dämon hat uns vorgegaukelt, es sei ein einfacher Stab.«
    Shan starrte die Frau an und überdachte ihre Worte, bis ihm auffiel, daß die dropka an ihm vorbeiblickte. Er drehte sich um und sah Shopo den Kamm überqueren und den Abstieg in das Tal beginnen. Über seiner Schulter lag ein Stoffbündel.
    »Heiliger Buddha«, sagte die Frau in düsterem Tonfall. »Der Sand.«
    Sie berührte bei diesen Worten das gau , das um ihren Hals hing. »Er muß den Sand zu den nagas zurückbringen, den Wassergottheiten.«
    »Aber bei Tageslicht können die Patrouillen ihn leicht entdecken«, sagte Shan beunruhigt und trat einen Schritt vor, als wolle er dem Lama nachlaufen und ihn aufhalten. »Man wird ihn noch verhaften. Kann er denn nicht warten?«
    Die dropka sah Shan an und schaute dann flehentlich zu den Bergen jenseits des Tals, als würde sie die Götter fragen, warum man ihr einen solchen Chinesen aufgebürdet hatte. Sie schüttelte den Kopf. »Das ganze Blut. Und genau in dem Moment, als sie fast fertig waren, nach all diesen Wochen voller Gebete. Wenigstens hatte man es noch nicht abschließend geweiht«, sagte sie mit schwerer Stimme. Sie blickte zu der einsamen Gestalt, die in das leere Tal hinabstieg. »Normalerweise wäre Shopo nachher zu den nagas gegangen, um ihnen zu danken und zu berichten, welch einem wunderschönen Zweck ihre Gabe gedient hat, nämlich dem Beginn der Erneuerung eines Gottes. Stell dir nur vor, was er ihnen jetzt mitteilen muß«, flüsterte die Frau, und

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