Das tibetische Orakel
Und in der Gegend nördlich von hier, wo er geboren wurde.«
»Wann waren Sie zuletzt mit ihm in Lhasa?«
»Zum letztenmal vor fast drei Monaten«, sagte die Frau vorsichtig. Vor etwas mehr als zwei Monaten hatte man das Auge in die Einsiedelei gebracht, und der eigentliche Diebstahl in Lhasa lag noch einige Wochen länger zurück. »Drakte hat erzählt, daß Sie den alten Lamas im Lager beigestanden sind. Da gab es einen alten Beamten aus der Regierung des Vierzehnten, dem Sie zur Freiheit verhelfen konnten.«
Lokesh stieß sein heiseres Lachen aus und sah Shan amüsiert an.
Somo musterte die beiden Männer einen Moment lang.
»Sie?« fragte sie Lokesh ungläubig.
Der alte Mann nickte. »Ich wäre in diesem Gefängnis gestorben, aber Xiao Shan hat einen anderen Weg für mich aufgetan.«
Xiao Shan. Kleiner Shan. Das war chinesisch; dennoch benutzte Lokesh manchmal diesen Ausdruck der Zuneigung aus Shans Kindheit, mit dem sich traditionell eine ältere Person an eine jüngere wandte.
Shan starrte in seine Schale. »Ich war schon tot, und sie haben mich ins Leben zurückgeholt«, sagte er und schaute zu der Hütte, wo Gendun immer noch bei Drakte saß. Die Bardo-Riten mußten vierundzwanzig Stunden rezitiert werden. In ihrem lao-gai-Lager hatten die Ältesten Lamas sich nach dem Tod eines Häftlings in Vierstundenschichten abgewechselt und die Gebete aus dem Gedächtnis aufgesagt, sogar während der Strafarbeit im Straßenbau. Es mußten stets die Ältesten sein, weil den jüngeren Mönchen dank der Chinesen eine vollständige Ausbildung versagt geblieben war und sie daher nicht alle Worte kannten.
»Es gibt sonst niemanden«, sagte Lokesh, als habe er Shans Gedanken verfolgt. »Ich kenne bloß die erste Stunde der Zeremonie, und wir haben keinen Text, den wir ablesen könnten.«
»Letzte Nacht habe ich noch jemand anders gehört«, sagte Shan. »Wir können keinen ganzen Tag mehr abwarten.«
»Es gibt sonst niemanden«, wiederholte Lokesh.
Shan sah verwirrt zu der Totenhütte. Es stimmte. Er hatte niemanden gesehen. War es ein seltsames Echo gewesen? Oder hatte gar Drakte versucht, eine Verbindung zu Gendun herzustellen?
»Aber ihr dürft nicht bleiben«, protestierte Somo.
»Wovor auch immer Drakte uns warnen wollte...«
Sie warf Shan einen kurzen Blick zu. »Es ist zu gefährlich. Das hat er letzte Nacht doch selbst zu euch gesagt.«
Wie zur Antwort erhob Lokesh sich und ging in die kleine lhakang. Shan folgte ihm. Nyma saß dort vor dem Altar und betete mit leiser, nervöser Stimme. Es klang beinahe, als würde sie mit dem Auge streiten, das mittlerweile an der Vorderkante des Altars lag. Auf dem Boden darunter stand ein geöffnetes Holzkästchen, das mit einem Stück Filz ausgeschlagen war.
Als die Nonne Shan sah, leuchteten ihre Augen auf. Sie stellte sich neben den Altar und blickte ihm erwartungsvoll entgegen. Da Shan nichts tat, deutete sie auf das Kästchen.
»Hast du Angst, es zu berühren?« fragte Shan.
»Ja«, sagte die Nonne sogleich. »Ich habe es mit einem chakpa bis zum Rand geschoben«, erklärte sie, als könne man nicht mehr von ihr verlangen.
Lokesh seufzte und hob die Schachtel auf. Shan trat vor, warf der Nonne einen verunsicherten Blick zu und legte das gezackte Stück Stein hinein. Lokesh faltete den Filz darüber zusammen und schloß den Deckel.
»Aber wir haben noch Zeit«, sagte Shan. »Rinpoche wird erst spät in der Nacht fertig sein.«
Lokesh ging mit dem Kästchen wortlos nach draußen. Der golok befand sich ganz in der Nähe und zog soeben den Sattelgurt seines stämmigen Pferdes fest. Er wollte aufbrechen, und Shan hatte nie ganz begriffen, wieso der Mann überhaupt gekommen war. Dann jedoch wurde Shan entsetzt Zeuge, wie der g olok zu einem braunen Pferd trat, das neben seinem eigenen stand, die Satteltasche öffnete und Lokesh die Hand entgegenstreckte, während im selben Moment Tenzin und einer der Hirten mit jeweils zwei weiteren Pferden am Zügel um die Ecke der hintersten Hütte bogen.
»Wir hätten im Morgengrauen aufbrechen müssen«, sagte der golok und bedeutete Lokesh mit ungeduldiger Geste, ihm das Kästchen auszuhändigen. »Habt ihr nicht zugehört? Der Mörder ist da draußen und will sich den Stein holen. Und ihr sitzt hier wartend herum wie alte Weiber.«
Shan warf Lokesh einen gequälten Blick zu, während der golok den Kasten in der offenen Satteltasche verstaute.
»Ich verstehe nicht allzuviel hiervon«, sagte sein alter Freund. »Aber ich
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