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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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wurde.«
    Weil ich die beiden noch vor der Armee erreichen muß, fügte Shan im stillen hinzu.
    Lins Lächeln verriet widerwilligen Respekt. »Sie sind nicht immer in Tibet gewesen.«
    »Ich habe zwanzig Jahre für die Volksregierung in Peking gearbeitet. Für die Parteimitglieder an der Spitze der Regierung.«
    »Doch dann haben Sie eine Pilgerfahrt nach Tibet unternommen«, warf Lin höhnisch ein.
    Shan starrte ihn an, knöpfte sich langsam den Hemdsärmel auf und zeigte Lin schweigend seine lao-gai - Tätowierung. »Ich habe beschlossen, mich einer besseren Art von Menschen anzuschließen«, erklärte er sanft.
    Lins Augen verengten sich und blieben lange Zeit auf die eintätowierte Ziffernfolge gerichtet. Als Shan den Arm wegzog, starrte der Oberst reglos ins Leere.
    Nach einem Moment stand Shan auf. »Ich lasse Ihnen Papier bringen. Sie wissen, daß wir den Brief lesen werden, bevor wir ihn zustellen. Schreiben Sie alles, was Sie wollen, aber erwähnen Sie weder Jokar noch diesen Ort.«
    Nach fünf Schritten drehte er sich um und schaute noch einmal zu Lin, der weiterhin wie erstarrt dasaß. »Dieses Mädchen, Anya«, sagte er. »Sie hat auch keine Familie.«
    Lm hob den Kopf, ließ aber nicht erkennen, ob er die Worte gehört hatte.
    Als Shan sich dem Eingang der versteckten Räume näherte, hörte er völlig unerwartet lautes Gelächter. Winslow stand dort bei Nyma und Anya und führte ihnen mit einem der geflochtenen Lederseile der purbas einige Tricks vor. Er hatte ein Ende zu einer Schlinge verknotet, ließ das Seil über dem Kopf kreisen und fing damit verschiedene Dinge ein. Das schmale Ende eines Felsens in sechs Metern Entfernung. Einen Stein auf dem Hang über ihnen. Anya, die mit angelegten Armen dastand und kicherte, als das Seil über ihre Schultern fiel und sich dann um ihre Taille schloß.
    Lächelnd ging Shan hinein. Als Lhandro hörte, was Shan mit dem Brief bezweckte, bot er sich sofort an, dem Oberst Papier zu bringen. Der junge purba wollte widersprechen, doch Somo hob die Hand und ließ ihn verstummen.
    »Lin wird verlangen, daß die Schreihälse Tenzin und Lokesh herausgeben«, verkündete sie mit bedrohlichem Funkeln in den Augen.
    Als Shan zurück nach draußen schlenderte, hatte noch jemand sich zu Winslow gesellt. Jokar stand mit fröhlich funkelndem Blick da und ließ sich einmal, zweimal und dann ein drittes Mal mit dem Lasso einfangen. Dabei nickte er beifällig und fragte schließlich, ob der Amerikaner ihn im Gebrauch des Seils unterweisen würde. Shan, Anya und Nyma sahen amüsiert zu, wie der Lama unbeholfen mit der Schlinge hantierte und sie langsam über dem Kopf herumwirbelte. Die ersten drei Versuche gingen daneben, aber dann traf Jokar jedesmal sein Ziel. Am Ende bat er Winslow, sich für ihn hinzustellen. Er lachte laut, als das Seil über die Schultern des Amerikaners fiel.
    »Es ist wie Bogenschießen, nur ohne Bogen«, stellte der alte Lama lächelnd fest. Dann forderte er Anya und Nyma auf, sich mit dem Seil an ihm zu versuchen. Nach einer Weile wies Jokar plötzlich auf einen Felsen inmitten des Gerölls, dessen Flechtenbewuchs, so erklärte der Lama, wie der Kopf eines Hengstes aussah, das Zeichen Tamdins, des pferdeköpfigen Schutzdämons.
    Lepka verkündete, es gebe nun frischen Tee, und die anderen gingen hinein. Shan und Winslow blieben noch bei der Felswand zurück.
    »Ich werde Sie begleiten«, sagte der Amerikaner auf einmal. »Nach Norbu.«
    Shan seufzte. »Ihr Paß hat Ihnen Schutz geboten. Da Sie ihn weggeben haben, bleibt Ihnen keine.«
    Die Amerikanerin trat zur Tür hinaus. »Warum?« fragte sie Winslow. »Warum haben Sie jemandem Ihren Diplomatenpaß gegeben?«
    Er grinste Melissa Larkin an. »Ich hab ihn verloren, das ist alles. Früher auf dem Schulweg habe ich immer meine Hausaufgaben verloren.«
    Sie starrte ihn an, errötete und biß sich auf die Unterlippe.
    »Unsere Freunde wurden verhaftet«, sagte Winslow ruhig. »Wir werden sie finden.«
    »In Norbu«, sagte Larkin. »Die purbas behaupten, sie seien im Zweiten Haus.«
    »Kennen Sie das Kloster?« fragte Shan.
    »Einige der purbas sprechen oft davon. Sie sagen, die Schreihälse würden kranke Mönche zur Behandlung dorthin bringen.«
    Die Worte ließen Shan erschaudern.
    »Letzten Monat war ich mit ein paar von unseren Leuten in den Bergen unterwegs und habe dort zufällig einen Mönch aus Norbu getroffen. Einen Mönch und einen Arzt in blauer Uniform. Die Männer bei ihnen sahen wie Soldaten

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