Das tibetische Orakel
aus, trugen weiße Hemden und hatten sich kleine Kerosinkanister auf die Rücken geschnallt. Ich habe einen Scherz gemacht und gesagt, sie könnten sich viel Mühe ersparen und einfach Yakdung nehmen, aber den Männern war nicht nach Witzen zumute.«
Shan sah Melissa Larkin an und wollte fragen, welchen Zweck dieses viele Kerosin wohl erfüllen sollte, als noch jemand aus dem Schatten des Eingangs zum Vorschein kam. »Wir können nicht kurzerhand in dieses gompa marschieren«, stellte Somo mit gequälter Stimme fest, als habe es wegen der Reise nach Norbu Streit zwischen ihnen gegeben.
Shan hätte am liebsten Widerspruch eingelegt. Er wollte nicht, daß jemand ihn begleitete und sich der großen Gefahr aussetzte, von den Kriechern verhaftet zu werden. Doch Somo war aus Lhasa hergekommen, um dem fliehenden Lama zu helfen, und hatte bereits Drakte verloren.
»Ihr werdet Leute brauchen, die schon einmal da waren«, sagte Nyma über Shans Schulter hinweg. Sie brachte ihm und Winslow Tee.
Er seufzte. Auch Nyma konnte er schwerlich zurückweisen. »Wir müssen Direktor Tuan aus dem Konzept bringen und ihn zu irgendeiner Reaktion veranlassen«, sagte Shan. Lepka kam hinzu und nippte ebenfalls an einer Schale Tee. Shan berichtete von dem Brief, den Lin schreiben sollte.
»Das ist ein Anfang«, pflichtete Winslow ihm bei. »Was gibt es sonst noch in diesem gompa?«
Nyma erzählte von den Sanitätsteams der öffentlichen Sicherheit, die sie gesehen hatten, und Lhandro schilderte die nervösen Mönche und das skrupellose Gebaren des Vorsitzenden.
»Was ist für diesen Vorsitzenden Khodrak wohl am wichtigsten?« fragte Somo.
»Der Mann ist ehrgeizig«, erwiderte Nyma. »Er will die Klarheitskampagne zu einem erfolgreichen Abschluß bringen. Es heißt, er wolle bei den hohen Tieren Eindruck schinden, um in die Reihen des Büros für Religiöse Angelegenheiten aufgenommen zu werden.«
Eine Beförderung. Nyma hatte recht, erkannte Shan, wenngleich ihm noch nie ein Mönch begegnet war, der in ähnlichen Kategorien gedacht hatte.
»Im Augenblick ist er hauptsächlich an den Feiern zum ersten Mai interessiert«, überlegte Lhandro laut. »Aber niemand wird hingehen. Es ist ein chinesischer Feiertag.«
Sie sahen sich an und schauten gen Himmel. Winslow fuhr mit der Fingerspitze gedankenverloren das Muster einer Flechte nach.
»Dein Freund Lokesh hat mir erzählt, daß du ihn manchmal das Taoteking lehrst«, meldete sich eine krächzende Stimme aus dem Schatten.
Shan drehte sich überrascht zu Lepka um. Der alte Bauer sprach von der uralten Schrift des Taoismus, deren Lehren Shan sich als Kind eingeprägt hatte. Als er nickte, streckte Lepka einen Finger aus und zeichnete ein Muster auf den sandigen Boden, das aus vier schlichten Linien bestand: einem zweigeteilten Strich über einer durchgehenden Linie und darunter zwei Reihen aus je drei gleichen Segmenten. Ein solches Tetragramm verwies stets auf einen bestimmten Abschnitt des alten Buches, in diesem Fall auf Kapitel sechsunddreißig, genannt »Tarnung des Vorteils«. Shan rief sich die Worte ins Gedächtnis und flüsterte sie dabei unwillkürlich vor sich hin:
Um es zu schwächen, muß man es nachhaltig stärken.
Um es zu stürzen, muß man es nachhaltig erheben.
Um ihm zu nehmen, muß man ihm nachhaltig geben.
Dies nennt man feinsinnige Weisheit.
So triumphiert der Schwache über den Starken.
»Ein Mann wie Tuan muß mit größerer Macht ausgestattet werden, damit man ihn bezwingen kann«, sagte Shan nickend zu Lepka.
Winslow hob den Kopf. Seine Augen funkelten verschlagen. »Hütet euch vor den Griechen«, sagte er. »Hütet euch vor den Griechen, die Geschenke bringen.«
Auch Melissa Larkin lächelte verschwörerisch. »Ein trojanisches Pferd«, murmelte sie und wandte sich dann den anderen zu. »Es ist eine Sage«, sagte sie und faßte die Einzelheiten kurz zusammen.
Schweigend saßen sie da und ließen die Worte des Taoteking und der griechischen Sage auf sich einwirken.
»Vielleicht sollte die Führung von Norbu gompa lieber vorsichtig mit dem sein, was sie sich wünscht«, flüsterte Shan vor sich hm.
»Und die rongpas und dropkas in den umliegenden Tälern wünschen sich vor allem ein Frühlingsfest«, sagte Lhandro.
Sie berieten sich fast eine Stunde lang, und Nyma sorgte ständig für frischen Tee. Somo holte die anderen purbas hinzu. Die Männer lauschten und nickten ganz aufgeregt. Dann ging Somo kurz hinein, schnallte sich ihre Gürteltasche um
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