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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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und lief den Pfad hinauf, der zurück auf den Berg führte.
    »Das Zweite Haus hatte eine wunderschöne gonkang« , erklang hinter ihnen eine leise Stimme, als Somo außer Sicht verschwand.
    Nyma keuchte erschrocken auf. Nur ein paar Schritte entfernt stand wie durch Zauberei plötzlich Jokar zwischen den Felsen. »Und der Stall. Wir haben in diesem alten Stall Kräuter aufbewahrt.«
    Alle scharten sich um den Lama und hörten ihn von dem Leben in Norbu gompa vor sechzig Jahren berichten. Es wirkte wie der perfekte Abschluß ihrer Beratung, wie eine Art Segen. Als Jokars Blick über das Plateau und die dahinter gelegenen Wolken schweifte, glaubten alle, der alte Lama habe seine Erzählung beendet. Er beugte sich vor, als nehme er etwas genauer in Augenschein - als sähe er in den Wolken das alte Norbu. »Es gibt einen Ort«, sagte er mit langsamem Nicken, als würde er in Gedanken die Räume durchwandern. »Einen Ort in den Zellen beim Stall, an der Rückseite. Einen geheimen Ort aus der Zeit, als man den Sechsten holen wollte.«
    Der alte Lama schien abermals den Kontakt zur Realität verloren zu haben.
    Die anderen standen auf und versammelten sich wieder um das Tee-Butterfaß, doch Shan betrachtete ebenfalls die Wolken. Falls Jokar dort das gompa sehen konnte, vermochte er selbst vielleicht Lokesh zu erkennen. Er starrte so angestrengt nach vorn, daß er gar nicht merkte, wie jemand sich näherte, bis ein zweifach gefaltetes Stück Papier auf seinen Stiefel fiel. Blinzelnd hob er den Kopf und sah Lin, der mißtrauisch die Tibeter beäugte.
    »Ihr könnt nicht an diese Gefangenen heran«, knurrte er und rieb sich die Schläfe. »Falls ihr es tut, falls ihr versucht, sie zu holen, wird die Öffentliche Sicherheit euch erschießen.«
    Lins Stimme war noch immer schwach, aber er klang überaus rachsüchtig. Dann hob er eine Hand und schien sie zur Faust ballen zu wollen, doch kurz darauf ließ er sie wieder sinken und geriet ins Wanken, als sei ihm schwindlig. »Und falls die verdammten Kriecher es nicht tun, werde ich es übernehmen«, krächzte er. »Ich werde alle hier verhaften. Verhaften und hinrichten lassen!«

IV. Knochen
Kapitel 16
    Wenn er seinen Geist von der Furcht befreite und sich mit geschlossenen Augen zurücklehnte, spürte Shan rings um sich kleine Wogen der Zufriedenheit. Nicht seine eigene Zufriedenheit, denn er mußte erst noch Lokesh und Tenzin aufspüren und befreien, sondern die der Tibeter, die sich auf der Ebene vor Norbu versammelt hatten. Kinder lachten, Pferde wieherten, Männer riefen einander erstaunt etwas zu, und in all das mischte sich das kehlige Brummen der Yaks. Hin und wieder, wie als Gewürz in einem exotischen Gericht, hörte Shan das helle Schwirren von Pfeilen.
    Er hatte an jenem Morgen eine Stunde in der Nähe der provisorischen Schießbahn gesessen, die von einigen dropkas jenseits der Zelte errichtet worden war, und dort im Gras sein Bewußtsein an den Pfeilspitzen geschärft. Die Tibeter hatten ihm schon vor langer Zeit beigebracht, wie man mit Pfeil und Bogen meditierte - ob nun anhand echter oder imaginärer Hilfsmittel. Shan verstand mittlerweile, was Gendun meinte, wenn er sagte, das Bogenschießen sei kein Sport, sondern eine Lehre. Es war das perfekte Mittel zur Sammlung der Konzentration, und wenn Shan seinen Verstand ausreichend freimachen konnte, vermochte er nicht nur das Spannen der Sehne, das Loslassen, den Flug des Pfeils und den Einschlag ins Ziel zu hören, sondern auch den perfekten Moment der Stille unmittelbar vor dem Schuß, wenn der Schütze und sein Werkzeug eins wurden. Nichts in Shans eigenem Leben war jemals so geradlinig, wahrhaftig oder schnell.
    Die Bewohner der umliegenden Täler hatten Khodrak und Padme die gewünschte Maifeier verschafft. Drei Tage lang waren Boten zwischen den Dörfern und den Lagern der dropkas hin- und hergeeilt, doch nun stand auf der an Norbu angrenzenden Ebene eine kleine Zeltstadt. Manche rongpas kamen in alten Lastwagen, an denen sie Planen festbanden, um darunter zu schlafen. Dropka-Familien errichteten Zelte aus schwerem Filz. Ein paar rongpas hatten blaugemusterte Reisezelte mit weißen Fransen aufgeschlagen. Früher, so erklärte Lhandro, seien die tibetischen Städter und ihre Familien häufig mit solchen kleinen Zelten aufs Land hinausgefahren, um durch Erneuerung der Bindung an die Erde religiöse Feiertage zu begehen oder den kora eines Klosters oder heiligen Berges zu umrunden. Viele der Leute hatten sich seit

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