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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Mönche mit Werkzeugen bei den heruntergekommenen Hütten vor dem Tor haltmachen, damit es so aussah, als würden sie eine Reparatur vornehmen.
    Als Padme die Gruppe zurück auf das Gelände des Klosters führte, wich Shan in den Schatten des purba - Lasters zurück und zog sich seinen neuen Hut tief in die Stirn. Er bemerkte, daß ein alter Mann den Lastwagen anstarrte, ein weißhaariger Tibeter mit ledrigem Gesicht, das die Narben und Falten eines langen Lebens trug. Der Mann saß etwa zwölf Meter entfernt und lehnte an einem kleinen Haufen Filzdecken, der neben einer dropka -Jurte lag. Shan wurde nicht nur klar, daß der Fremde schon seit Stunden dort saß, sondern auch, daß er den Mann bereits kannte: Bei Shans erstem Besuch hatte der Alte vor dem Tor von Norbu an einer Nähmaschine gesessen. Er sah, daß die Hand des Mannes sich bewegte; zwei Finger neben dem Knie streckten sich und wurden wieder angewinkelt. Es hätte eine nervöse Geste sein können. Vielleicht aber auch die Aufforderung, sich ihm zu nähern, vollführt von jemandem, der sich nicht anders zu Behelfen wußte. Shan rückte den Hut zurecht und ging langsam auf den alten Mann zu.
    Der Tibeter nickte, als Shan ihn erreichte, und Shan ließ sich zögernd neben ihm nieder. Es gab hier überall Spione, hatte Somo gewarnt. So mancher Mönch arbeitete für die Öffentliche Sicherheit. Sogar ältere Tibeter wurden zu Spitzeldiensten genötigt, indem man ihnen versprach, bei inhaftierten Angehörigen Milde walten zu lassen. »Es heißt, du seist aus einem chinesischen hayal gekommen, um uns zu helfen«, sagte der Mann mit heiserer Stimme.
    Ein chinesisches verborgenes Land. Der Mann meinte, daß aus der normalen chinesischen Welt niemand zu Hilfe kommen würde. Er könnte recht haben, dachte Shan. Das hayal hieß Gulag. »Ich würde gerne helfen«, erwiderte Shan.
    Der Mann sah sich um und zog aus seiner schmutzverkrusteten chuba ein gefaltetes Stück Papier hervor. »Ich habe früher im Ersten Haus gearbeitet«, verkündete er mit stolzem Lächeln. »Nicht als Mönch, sondern als Zimmermann. Damals ist dort oben auf den Hängen wunderbares Holz gewachsen. Auch heute noch kommen manchmal Leute zu mir und bitten mich, etwas für sie anzufertigen. Einen Tisch, einen Stuhl, einen Schemel. Aber das Papier, um eine Vorlage oder einen Entwurf zu zeichnen, ist immer knapp. Ein Mann aus der Küche wollte zu Ehren seiner Mutter einen Altar in Auftrag geben und bat mich um eine Zeichnung, damit er das nötige Holz kaufen konnte. Das hier hat er für die Skizze mitgebracht. Dieser Padme hatte es eines Abends auf einem Tisch liegengelassen.«
    Es war ein großes Stück Papier, sah Shan, eine Landkarte, die ein Experte angefertigt oder vielleicht von einer gedruckten Karte abgepaust hatte. Der alte Mann deutete mit knorrigem Finger auf mehrere Orte. »Das Zweite Haus«, sagte er und wies auf Norbu am unteren Rand des Blattes. »Das Erste Haus und die Metoktang.«
    Er zeigte auf Rapjung und die Ebene der Blumen. Die Karte war beschriftet, allerdings nur auf chinesisch.
    »Ich kann Chinesisch lesen und schreiben«, sagte der Alte. »Die Männer aus dem gompa lachen mich oft aus, und ich lasse es über mich ergehen. Mit Narren muß man stets Mitleid haben. Sogar dieser Mann aus der Küche weiß nicht, daß ich diese Schrift verstehe. Keiner von ihnen weiß, daß ich die gompa-Schule besucht habe. Unsere Lehrer sagten, wir müßten lernen wie man mit den Chinesen leben kann.«
    Er stieß ein pfeifendes Lachen aus und deutete wieder auf die Karte. »Falls du verstehen möchtest, was im Zweiten Haus vor sich geht, ist dies hier alles, was du brauchst.«
    Shan musterte den Alten unsicher. Dann widmete er sich den anderen Einträgen der Karte. Laut der Legende stand ein X in einem Kreis für »Sterilisiert«. Ein solches X fand sich beispielsweise in der äußersten nordwestlichen Ecke der Ebene der Blumen, versehen mit einem Datum, das zehn Tage zurücklag. Es gab in der Region noch mindestens fünfzehn weitere derartige Markierungen, keine älter als zwei Monate. Auch Rapjung gompa war mit einem X als »Sterilisiert« gekennzeichnet, und zwar vor neun Tagen. Shan dachte an Larkins Begegnung in den Bergen zurück: ein Mönch, ein Arzt und Kerosin. Dann begriff er plötzlich und fühlte sich seltsam geschwächt.
    »Mögen die Götter siegreich sein«, sagte der alte Mann leise, als Shan aufstand und die Karte zu der Versammlung beim Lastwagen mitnahm, um dort den purbas ,

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