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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Stück eingerissen. Über der anderen Schulter trug Somo eine lederne Kuriertasche. Alle Betrachter hatten den Eindruck, dort nähere sich ein erprobter Soldat, dessen Auftrag ihn ins Hochgebirge geführt hatte.
    Die grimmigen Han-Chinesen in den weißen Hemden waren bislang desinteressiert und beinahe sorglos über das Festgelände patrouilliert. Am ersten Tag hatte ein niederer Beamter, nicht Tuan, argwöhnisch die Tibeter inspiziert, als müsse er sich ein Urteil über die Versammlung bilden. Als er lauthals forderte, einige der dropkas sollten ihre gaus für ihn öffnen, hatten die Leute zunächst gezögert. Dann jedoch hatten die purbas aus einem tragbaren Kassettenrekorder »Der Osten ist rot« erschallen lassen, eine von Pekings bevorzugten Hymnen, und mehrere Kinder waren herbeigelaufen, um kleine Flaggen der Volksrepublik zu schwenken, die sie ebenfalls von den purbas erhalten hatten. Der Schreihals hatte daraufhin frostig, aber immerhin beifällig gelächelt und die dropkas mit einer großmütigen Geste entlassen, bevor er mit selbstgefälliger Miene wieder abgezogen war. Seine beiläufige Art hatte Shan beunruhigt. Wichtige Gefangene hätten die Wachen eigentlich vorsichtiger machen müssen.
    Dennoch - seit Shan vor zwei Tagen angefangen hatte, das Tor des Klosters zu beobachten, war dort rund um die Uhr ein einzelner Wächter in weißem Hemd postiert gewesen. Shan wertete diesen Umstand als Ermutigung, genauso wie die Information, daß der Speisesaal geschlossen sei, doch es gab weiterhin keinen Beweis dafür, daß Lokesh und Tenzin sich hinter den Mauern des gompa aufhielten.
    Somo lief zu dem erstbesten Aufpasser, sprach leise mit ihm und gab ihm Lins Brief. Dann lief sie sofort wieder weg. Alles verlief wie geplant. Sie durfte nicht bleiben, sonst hätte man ihr zu viele Fragen stellen können. Sie würde mit tiefer Stimme sprechen, um für einen Mann gehalten zu werden, und dem Posten dabei nicht ins Gesicht sehen, damit man sie später nicht so leicht wiedererkennen konnte. Einen Moment lang schaute der Wächter verwirrt dem vermeintlichen Soldaten hinterher. Dann brachte er den Brief hastig in das Verwaltungsgebäude. Shan beugte sich mit dem Fernglas vor. Es lief niemand sogleich zur Tür hinaus, aber Shan bemerkte im ersten Stock eine Bewegung am Fenster des Büros, in dem er selbst neulich gesessen hatte. Wenig später sah er fünf Gestalten zum Tor eilen: Direktor Tuan und Vorsitzender Khodrak mit dem Überbringer der Botschaft und zwei weiteren von Tuans Männern. Als sie das Tor erreichten, deutete der Posten auf Somos ferne Gestalt, die inzwischen den Kamm erreicht hatte. Falls man beschloß, die Verfolgung aufzunehmen, würden die purbas in Aktion treten. Sobald die Wächter den Grat erreichten, würden sie vier Personen in Armeeuniformen erblicken, ausgesandt durch ein verstecktes Flaggensignal, die den nächsten Kamm überquerten und in der Ferne verschwanden.
    Tuan schien einige seiner Männer losschicken zu wollen, doch dann fiel sein Blick auf das tibetische Lager, und er überlegte es sich anders. Statt dessen sagte er etwas zu einem der Posten, woraufhin der zu dem Haus lief, das hinter dem Verwaltungsgebäude lag.
    Nyma sah lächelnd zu Shan. »Lha gyal lo« , flüsterte sie. Mehr Beweise würde es womöglich nicht geben.
    Leider zögerten die Tibeter, die zum Fest hierher angereist waren, das Kloster zu betreten. Zum Gelingen des Plans benötigten Shan und die anderen die Hilfe der rongpas und dropkas , die sich im Innern umsehen sollten, ohne daß die Schreihälse mißtrauisch wurden. Doch es war ein Refugium der Mönche, ein heiliger Ort, trotz der chinesischen Wimpel, die zwischen den Gebäuden flatterten, und Lhandro warf Shan immer wieder mutlose Blicke zu, während die Führer der versammelten Clans sich mit den purbas berieten.
    Eine neue Gruppe Besucher schlenderte im Lager umher, zwei Fotografen und mehrere Mönche, angeführt von Padme, der Bonbons an die vielen Kinder verteilte. Shan folgte ihnen in einiger Entfernung und beobachtete, wie die Männer mehrmals stehenblieben, um Bilder zu schießen: Mönche mit lächelnden Kindern auf dem Schoß. Mönche, die beim Schmücken der Yaks halfen. Padme gab einigen der Jugendlichen neue Nylonjacken, verschenkte Flaschen mit einem orangefarbenen Getränk und wies die Fotografen an, die freudestrahlenden Gesichter vor dem leuchtendblauen Himmel im Bild festzuhalten, dann noch einmal mit dem gompa im Hintergrund. Danach ließ er die

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