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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Bauern und Hirten den Sachverhalt zu erläutern.
    »Aber da draußen ist nichts«, wandte ein dropka verwirrt ein. »Nur Wildnis. Nichts, das man gegen uns wenden könnte.«
    »Die Schreihälse würden in diesem Fall von den >Alten< sprechen«, sagte Shan und sah mehrere der Tibeter zusammenzucken. »Kräuter. Heilige Plätze der Lamas von Rapjung. Das ist es, was Padme zerstört. Wir haben ihn nach Rapjung gebracht, und er hat dort alle Gebäude niedergebrannt.«
    Er hielt inne und ließ Lhandro die furchtbare Nacht schildern, in der die wiederaufgebauten Häuser ein Raub der Flammen geworden waren. Shan wußte nun, daß sie sich, was den dobdob anging, geirrt hatten. Der dobdob mußte Padme aufgehalten und verprügelt haben, weil er den Mönch dabei überrascht hatte, wie er die Heilpflanzen in Brand stecken wollte. Shan erinnerte sich an Padmes Reaktion auf die neu errichteten Schreine des alten gompa. Er habe von einem entsprechenden Gerücht gelesen, hatte Padme gesagt. Dieses Gerücht hatte in den Berichten der Schreihälse und der öffentlichen Sicherheit gestanden. Es bedeutete, daß der dobdob versuchte, die Schreihälse aufzuhalten und die Kräuter vor der Vernichtung zu bewahren. Bei dem Mönchspolizisten, dem Beschützer des Glaubens, handelte es sich zudem um Jokars Begleiter, den sie auf der Wiese zusammen mit dem alten Heiler gesehen hatten und der inzwischen verschwunden war.
    Gyalo trat vor, um zu erzählen, was er in Norbu erlebt hatte. Schließlich stand Nyma auf und fragte leise, wer von den Anwesenden Drakte gekannt habe. Fast alle Hände hoben sich. Dann erklärte sie, wie Drakte sein Leben geopfert hatte, um ihrer gemeinsamen Sache zu helfen, und danach äußerten die Bauern und Hirten keine Einwände mehr. Sie erhoben sich voll grimmiger Entschlossenheit und bildeten einige Gruppen, während die purbas den Plan darlegten.
    Das besondere Sanitätsteam hielt sich immer noch in Norbu auf, denn mehrere der Leute gingen müde zwischen den Tibetern umher. Das hieß, daß die Suche nach dem Lama-Heiler in dieser Gegend fortgesetzt wurde. Warum? fragte sich Shan. Welchen Hinweis auf Jokar hatten sie, daß sie hier im Kloster blieben? Wenn sein Ziel ihnen von vornherein bekannt gewesen wäre, hätten sie gewiß nicht so viele Wochen darauf verschwendet, ihn von der indischen Grenze bis hierher in die Berge zu verfolgen.
    Weniger als eine Stunde nach Ablieferung des Briefes bildete sich vor dem Tor eine Warteschlange. Manche der Tibeter hielten sich die Bäuche, und zwei purbas trugen jeweils einen Arm in der Schlinge. Der Wachposten weigerte sich, ihnen Zutritt zu gewähren. Geduldig warteten sie eine ganze Weile, bis einer der Männer in den hellblauen Uniformen sie bemerkte und den Posten anwies, die Kranken durchzulassen. Es entging ihm, daß sich auch ein Chinese unter den Leuten befand, dessen Hand mit einer schmutzigen Bandage umwickelt war und der sich den neuen breitkrempigen Hut tief in die Stirn gezogen hatte.
    Als Shan den hinteren Teil des Klosters erreichte, stellte er erleichtert fest, daß keine so strenge Disziplin mehr vorherrschte wie noch bei seinem ersten Besuch. Man hatte vor der behelfsmäßigen Klinik entlang mehrerer Holzpfosten ein Seil gespannt, an dem die Kranken sich zu einer neuen Warteschlange aufreihten. Das Sanitätsteam fertigte zügig und desinteressiert die ersten Leute ab und händigte ihnen irgendein Medikament aus. Danach blieben die bereits behandelten Tibeter im hinteren Bereich des Klosters, sprachen mit den Wartenden, bestaunten die große Gebetsmühle und bewunderten sogar den riesigen Haufen Yakdung, den seit Gyalos Verschwinden offenbar niemand mehr angetastet hatte.
    Shan und Nyma setzten sich von den anderen ab und steuerten den Stall an, der eine Nacht lang ihr Gefängnis gewesen war. Nachdem sie sich vergewissert hatten, daß niemand sie beobachtete, traten sie in das angrenzende Gebäude. Shan streifte die Bandage ab. Das niedrige, baufällige Holzhaus war sehr alt, vielleicht noch älter als der Stall. Seine Meditationszellen, drei auf jeder Seite und zwei am Ende des Korridors, waren schmutzig, die Luft roch modrig.
    Von all den von Menschen erschaffenen Orten, die Shan in Tibet kennengelernt hatte, rührte ihn kein einziger so sehr an wie die schlichten hölzernen Zellen, die er bisweilen in den entlegenen Regionen des Landes vorfand, zumeist in den wenigen Gebäuden, die aus früheren Zeitaltern übriggeblieben waren. Hier hatten jahrhundertelang

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