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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Männer und Frauen gesessen und genau das gleiche Ziel verfolgt, genau die gleichen Gefühle verspürt und ebensosehr nach Erkenntnis gestrebt wie Shan und seine tibetischen Freunde. In unbeholfenen Worten hatte er Gendun eine seiner ersten Begegnungen mit solch einer Zelle als Besuch in einer Zeitmaschine beschrieben, denn aus irgendeinem Grund war er sich dort der Anwesenheit der Mönche bewußt gewesen, die drei- oder vierhundert Jahre vor ihm an jenem Ort gesessen hatten. Nein, hatte Gendun ihm widersprochen, es sei keine Zeitmaschine, denn das würde einen zu großen Unterschied zwischen ihnen und uns beinhalten, als wären diejenigen, die nach Erkenntnis strebten, im Laufe der Jahrhunderte einer Veränderung unterworfen. Es sei eine Brücke, hatte er gesagt, eine Möglichkeit, sich außerhalb, der Zeit zu bewegen, sie gleichsam auszuklammern und nach genau jener Bewußtseinsebene zu greifen, die allen erleuchteten Wesen eigen sei, völlig ungeachtet der verstrichenen Zeit. Shan hielt inne und mußte an Genduns Worte denken. Einen flüchtigen Augenblick lang wollte er nichts lieber, als sich in eine der Zellen zu setzen, um dort zu meditieren.
    »Jokar Rinpoche hat erzählt, es stamme aus der Zeit, als man den Sechsten holen wollte«, sagte Shan und ging an Nyma vorbei zu den hinteren Zellen. Er bemühte sich immer noch, Jokars Worte zu begreifen und zu unterscheiden, welche davon für diese Welt und welche für eine andere bestimmt waren.
    »Lhabzang Khan«, sagte Nyma gedankenverloren. Sie betrat eine der beiden Zellen, hob eine Hand und berührte mit ausgestrecktem Finger vorsichtig das alte Zedernholz, als könne es zu Staub zerfallen. »Lhabzang Khan ist aus der Mongolei nach Tibet vorgedrungen und hat den sechsten Dalai Lama entführt. Seine Armee ist auf der alten Nordroute durch Amdo gezogen.«
    Das alles lag dreihundert Jahre zurück. Die Mongolen hatten sich des jungen Sechsten bemächtigt, um ihn dem Mandschu-Kaiser in Peking als Geschenk zu überreichen. Doch sie und die Chinesen wurden um ihren Triumph betrogen, weil der Sechste auf dem Weg nach China starb.
    »Orte wie Norbu, die nahe an der Nordroute lagen, wurden geplündert«, sagte Shan. Er ging in die andere Zelle und tastete die Rückwand ab. Nichts bewegte sich. Dann fuhr er mit dem Finger die einzelnen Nahtstellen zwischen den Brettern entlang. Nichts. Die Wand wies keinen einzigen Spalt auf. Er verließ den kleinen Raum und sah, daß Nyma nebenan das gleiche tat. »Jemand könnte kommen«, sagte sie und warf einen nervösen Blick über die Schulter.
    Shan kam zu ihr in die Zelle.
    »Jokar hat womöglich von etwas gesprochen, das er während einer Meditation gesehen hat, eine Vision.«
    Sie seufzte.
    Shan nickte enttäuscht. An der Seitenwand gab es ein kleines Sims aus zwei schmalen Brettern, auf dem ein Mönch eine Butterlampe und eine Räuchervase abstellen konnte. Shan strich über Ober- und Unterseite des Regals. Es gab keinen Hebel oder verborgenen Schalter, nichts, an dem sich etwas verstecken ließ. Schließlich tastete er noch einmal die Oberseite ab. Als seine Hand sich der Ecke näherte, gab das hintere Brett einen Zentimeter nach, und die Rückwand schwang auf.
    Es war ein schmales Gelaß von weniger als einem Meter Breite. Als sie eintraten, entzündete Nyma ein Streichholz. Sie hatten weder eine Kerze noch eine Butterlampe bei sich. Aber sie mußten sich ohnehin beeilen. Nyma reckte das Streichholz erst in die eine, dann in die andere Richtung. Die staubige Kammer war sechs Meter breit. An einem Ende gab es eine Bank, auf der ein Stapel Kissen lag, am anderen Ende befanden sich Regale.
    Sie hatten keine Zeit, sich genauer umzuschauen. Nyma blies das Streichholz aus und kehrte mit Shan in die Zelle zurück. Dort drückte er das andere, hervorstehende Ende des Bretts nach unten, und die Rückwand glitt unter leisem Ächzen in die ursprüngliche Position. Auch der Hebel rastete wieder ein.
    Draußen drehten mehrere dropkas die riesige Gebetsmühle. Als zufällig ein Mönch vorbeikam, fragte einer der Männer ihn aufgeregt, ob sie die Mühle wegen des Feiertags nicht ausnahmsweise länger drehen dürften, als auf dem Schild angegeben war. Der Mönch erwiderte nervös, er werde die Bitte dem Komitee vorlegen.
    Während Shan im Kloster umherschlenderte, begriff er auf einmal, daß kein Angehöriger des Komitees sich mehr blicken ließ, weder Khodrak noch Padme oder Tuan. Trotz des Hoffnungsschimmers, der in ihm aufgekeimt war, als

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