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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Jahren nicht mehr gesehen, und überall hörte man fröhliche Begrüßungen. Abseits des gompa und des einzelnen Weißhemds, das am Tor Wache stand, warfen die Tibeter Gerstenmehl in die Luft, ein traditioneller Ausdruck der Freude. Solch ein Verhalten war so althergebracht, daß die Schreihälse es unterbinden würden, falls sie es sahen.
    An Bord des Lastwagens, der sie in den Bergen eingesammelt hatte, war Shan Zeuge einer merkwürdigen Debatte zwischen Lhandro und den purbas geworden. Was wäre in erster Linie dazu geeignet, die Bevölkerung zu dem Fest zu locken? hatte Somo den rongpa gefragt. Yaks und Bogenschießen, hatte Lhandro geantwortet. Zu Shans Überraschung waren die Yaks einfacher aufzutreiben als die Schützen, denn auch das Bogenschießen zählte zu den Traditionen, die von der Regierung unterdrückt wurden. Von dem Versteck aus, das die purbas auf dem Berggrat oberhalb des Klosters errichtet hatten, sah Shan am zweiten Tag eine kleine Herde Yaks eintreffen, von denen manche bereits mit farbenprächtigen Schleifen und Bändern geschmückt waren. Die mit Steinen abgegrenzte Schießbahn, an deren Ende Ziele aus gehärtetem Schlamm standen, fand erst dann nennenswerten Zuspruch, als dropkas aus den entlegensten Bergregionen auftauchten, wo der Einfluß der Behörden weitaus schwächer war.
    Jemand berührte Shan am Arm. Er öffnete die Augen und sah Anyas lächelndes Gesicht. Sie nahm seine Hand. Wortlos ließ er sich von ihr auf die Beine und hin zu der behelfsmäßigen Weide ziehen.
    »Fast hundert!« sagte sie aufgeregt.
    Yaks. Sie meinte, dort seien fast hundert Yaks, erkannte Shan, als sie sich unter die Tiere mischten. Er registrierte die freudestrahlenden Mienen, mit denen die Tibeter die Herde betrachteten, und begriff, daß in diesem verarmten Bezirk eine solche Ansammlung von Tieren selten war.
    Anya führte ihn in die Mitte der Herde und klopfte unterwegs nahezu jedem Tier auf den Rücken. Dann teilte sie sich mit Shan eine Handvoll getrockneten Käse und erläuterte ihm die Namen für die zahlreichen Farbmuster. Sie deutete auf ein schwarzes Tier mit weißen Flecken. »Yak thabo« , sagte sie verträumt und rieb dem Tier die Ohren. »Yak dongba« , erklärte sie und wies auf ein Tier mit einem weißen Stern auf der Stirn. Ein kawa hatte einen weißen Kopf, ein tsen -Yak war goldfarben, und ein Tier mit asymmetrischen Hörnern nannte man ralden. Schließlich trat Anya zu einem großen, vollständig schwarzen Tier, das die beiden Neuankömmlinge mit leisem Brummen begrüßte.
    »Ich habe Gyalo gestern abend ankommen gesehen«, flüsterte sie. »Er trägt die Kleidung eines Hirten.«
    Anya fing an, Zöpfe in Jampas Fell zu flechten, und zeigte Shan, wie man die Strähnen anfassen und übereinanderlegen mußte. Dieses Tier sei besonders selten, erklärte sie, ein lha -Yak, ein in jeder Hinsicht perfekter Yak, der unter dem Schutz der Götter stehe und niemals eine unreine Last tragen dürfe.
    Auf einmal bemerkte Shan, daß Anya mit ängstlichem Blick an ihm vorbei schaute. Er drehte sich um und sah, daß sie das Tor des gompa in fast zweihundert Metern Entfernung anstarrte.
    »Es ist soweit«, verkündete sie und ging dann stumm mit ihm zum Lastwagen der purbas zurück. Als sie den Schatten erreichten, den das Fahrzeug warf, tauchte Nyma auf und nickte in Richtung des Bergkamms über dem Kloster. Dort oben lief eine Gestalt in grüner Armeeuniform. Shan beobachtete, wie sie halb den Hang hinunterrannte, stieg dann auf die von einer Plane überdachte Ladefläche und setzte sich neben Nyma, die sein altes Fernglas hervorholte. Die purbas hatten den Lastwagen so abgestellt, daß die Ladefläche zum Tor wies und einen Einblick auf das Klostergelände ermöglichte, hin zu dem ersten der zweigeschossigen Häuser, dem Bürogebäude, in dem Shan und Nyma auf das Demokratische Verwaltungskomitee des gompa gestoßen waren.
    Nyma nahm das Gelände kurz in Augenschein und reichte das Fernglas dann an Shan weiter. Er konnte das Gesicht der Person, die sich nun dem Tor näherte, deutlich sehen. Die rongpas und dropkas wichen der Uniform der Volksbefreiungsarmee aus. Nur die Leute in dem purba - Laster wußten, daß es sich nicht um einen Soldaten handelte, aber sogar durch das Fernglas war Somo kaum zu erkennen. Ihr Haar steckte unter einer überdimensionalen Wollmütze verborgen, wie sie die Gebirgsjäger unter ihren Helmen trugen. Die Uniform war vollständig, aber schmutzig und an einer Schulter ein

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