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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Lins Brief abgeliefert wurde, erschien es ihm inzwischen unmöglich, daß Lokesh und ein so wichtiger Gefangener wie Tenzin hier sein könnten. Irgend etwas im gompa hätte auf sie hindeuten müssen. Es gab vielleicht andere Orte, erkannte er verzweifelt, geheime Orte, von denen die purbas nichts wußten. Der Torposten war unter Umständen nur deswegen aufgestellt worden, weil vor dem Kloster so viele Tibeter kampierten.
    Shan lehnte sich gegen eines der alten hölzernen Wohnhäuser, rutschte an der Wand nach unten und setzte sich auf den Boden. Überall auf dem Gelände waren nun Tibeter verstreut; manche hielten ihre malas in den Händen, andere genossen einfach den Sonnenschein, um danach wieder in der lhakang zu beten. Shan konzentrierte sich auf die Fenster der beiden großen Gebäude. In der Mitte des Stockwerks über dem Speisesaal tauchte regelmäßig ein Mann in weißem Hemd auf. Gelegentlich warf er einen Blick nach draußen, aber meistens blieb er ein paar Minuten mit dem Rücken zur Fensterscheibe stehen. Vier andere Weißhemden patrouillierten zu zweit über den Hof und waren dabei eifrig ins Gespräch vertieft, fast wie Mönche bei einem religiösen Disput. Auf den Stufen vor der Küche saß ein Mann mit Schürze und hielt einen Besen. Shan nahm ihn genauer in Augenschein. Er war jünger und wirkte muskulöser als der Rest des Küchenpersonals. Seine Schürze wies keine Flecken auf, und er schien wenig Lust zu haben, den anderen bei der Arbeit zu helfen.
    Aus der Hintertür des ersten Gebäudes traten einige Mönche mit kleinen Notizblöcken in den Händen. Von einem der Blöcke löste sich eine Seite und wurde vom Wind ein Stück fortgetragen. Ohne weiter darüber nachzudenken, lief Shan hinterher und holte sie für den Mönch. Es war ein linierter Zettel mit der aufgedruckten Überschrift Feudalismus bedeutet Rückentwicklung. Darunter standen handschriftliche Notizen in chinesischen Buchstaben. Shan reichte das Blatt dem Mönch, der es mit verlegenem Lächeln entgegennahm.
    Aus dem Augenwinkel erblickte Shan ein ähnliches Stück Papier, das schmutzig und zertrampelt halb im Boden begraben lag. Es schien auf besondere Weise gefaltet zu sein. Als er sich bückte, um es aufzuheben, hüpfte ihm vor Freude das Herz. Es war ein Geisterpferd.
    Er steckte das Papier in die Hemdtasche und wagte sich näher an die Küche heran. Einer der Helfer kam zur Tür und brachte dem Mann eine Tasse Tee. Der stand daraufhin auf und schulterte den Besenstiel wie ein Gewehr. Der Tibeter mit dem Tee duckte sich und huschte sogleich wieder weg, nachdem der Mann die Tasse lachend entgegengenommen hatte.
    Shan ging weiter und bemühte sich, möglichst unauffällig das zentrale Gebäude im Auge zu behalten. Vor ihm stieß eine dropka einen kleinen Freudenschrei aus und beugte sich hinab, um ein weiteres der Papierpferde aufzulesen, das eine Bö bis an die Hauswand getragen hatte. Dann hielt die Frau das Pferd in den Wind und lachte, als es wie ein winziges Fähnchen zu flattern begann.
    Oben schaute abermals der Schreihals zum Fenster hinaus. Um nicht bemerkt zu werden, senkte Shan den Kopf und schloß sich einer Gruppe dropkas an, die an dem Gebäude vorbeigingen. Als sie um die hintere Ecke bogen, riskierte Shan noch einmal einen Blick auf die erste Etage und schätzte die Entfernung bis zum Boden ab. Ein junger Mann wäre vielleicht in der Lage gewesen, sich von einem der oberen Fenster hinunterzulassen und wegzulaufen, aber Lokesh hätte sich vermutlich die Knochen gebrochen.
    Im vorderen Teil des Hofs liefen bereits eifrige Vorbereitungen für den morgigen Feiertag. Vor dem Verwaltungsgebäude hatte man eine riesige chinesische Nationalflagge aufgehängt. Sie war mit Seilen unterhalb zweier Fenster im Obergeschoß befestigt, und zwar an kleinen Eisenhaken, die jedes der Fensterbretter säumten und Shan bis zu diesem Moment nicht aufgefallen waren. Früher hatte man an solchen Haken besondere thangkas angebracht, wenn ein traditioneller tibetischer Festtag anstand. In manchen großen gompas gab es sogar Türme, deren einziger Zweck dann bestand, bei solchen Gelegenheiten mit heiligen Gemälden behängt zu werden. Vorsitzender Khodrak hatte sich jedoch für eine andere Art von Banner entschieden.
    »Es gibt hier angeblich Ehrengäste«, berichtete Gyalo aufgeregt, als Shan den purba-Laster erreichte. »Einer der Küchenhelfer ist zum Schießstand gekommen. Ein alter Tibeter, ein Zimmermann, kannte ihn und hat von ihm

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