Das tibetische Orakel
laut und chaotisch werden, genau wie Shan und seine Freunde es sich erhofften.
Niemand sprach. Die Stiefel trampelten abermals vorbei und wurden wieder leiser. Aus dem Lautsprecher ertönte eine Stimme. Dann hörte man noch jemanden, zwar ebenfalls laut, aber nicht elektrisch verstärkt. Lhandro. Es herrschte Stille, dann folgten Tierlaute. Die Prozession umkreiste das Gelände, vorbei an Speisesaal und lhakang , Sanitätsstation und Gebetsmühle. Shan beugte sich vor und lauschte angestrengt. Ein Pochen erklang, dann noch einmal, aber lauter. Tenzin berührte ihn am Arm. Jemand klopfte von draußen an die Wand. Shan gab die Geheimtür frei, und sie schwang auf. Somo half ihnen mit besorgter Miene aus der Kammer.
Als vor dem Haus Yaks mit verzierten Geschirren vorbeiströmten, stellten Lhandro und mehrere andere sich vor den Eingang, um den Blick ins Innere zu versperren. »Lha gyal lo! Lha gyal lo!« riefen sie fröhlich den Freunden in der Prozession zu, und die Worte hallten über das ganze Gelände.
»Lha gyal lo!« antwortete eine krächzende Stimme hinter Shan. Er drehte sich um und sah, daß Nyma versuchte, Lokesh den Mund zuzuhalten.
Sie trugen den alten Tibeter in den Korridor, wo bereits Winslow wartete. Der Amerikaner beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln ab. Somo und Nyma hievten Lokesh auf Winslows Rücken und banden ihn an Brust und Taille mit einem robusten Seil fest. Lokesh lachte heiser. »Mein Geisterpferd ist gekommen«, rief er.
Als der Amerikaner sich aufrichtete, legte Somo eine Decke um die beiden und befestigte sie mit Stecknadeln vor Winslows Brust. Dann waren auf einmal sechs Tänzer da, zwei als Skelettkreaturen verkleidet, die anderen als Schutzdämonen. Zwei der Kostüme waren für jeweils zwei Tänzer gemacht, wobei einer auf den Schultern des anderen saß und die vier Arme in Händen mit langen Klauen endeten. Die Tänzer hielten vor dem Eingang, als würden sie kurz ausruhen, und machten dann langsam weiter, doch eines der großen Geschöpfe blieb genau vor der Tür stehen. Lhandro und Somo nahmen den oberen Kostümteil ab, und zum Vorschein kamen zwei der dropkas , die Shan tags zuvor am Lastwagen der purbas gesehen hatte. Nach weniger als einer Minute steckten Winslows und Lokeshs Hände in den Ärmeln des Kostüms, und der obere Teil ruhte auf Lokeshs Schultern. Winslow stolperte aus dem Gebäude, fand das Gleichgewicht wieder und tanzte den Weg entlang. Sie konnten hören, wie Lokesh dabei lautstark die Götter pries. Shan drehte sich um und sah, daß Tenzin in eines der Skelettkostüme gesteckt wurde. Im nächsten Moment stülpte man ihm selbst die Maske eines wütenden Yaks über den Kopf. Nyma nahm ein langes schmales Bündel, das in ihre Jacke gewickelt war. Es handelte sich um eines der peche , die sie und Lokesh gelesen hatten. Sie bedachte Shan mit einem wissenden Blick und schloß die Geheimtür. Die anderen peche würden im Schutz der duftenden Kammer zurückbleiben.
Shan konnte kaum erkennen, wohin sein erster Schritt führte, und registrierte dankbar, daß jemand ihn hinaus zu den anderen Tänzern geleitete. Gleich darauf orientierte er sich an dem Rhythmus der Gruppe, machte drei Schritte vor, einen zurück und einen zur Seite, so daß sie sich langsam wieder dem Tor näherten.
Hinter ihm blökten Schafe, und die sonst so zurückhaltenden Mönche von Norbu fingen an, die Kinder der Prozession durch Zurufe zu ermuntern. Als sie die Bänke am Tor erreichten, bemerkte Shan, daß Winslow langsamer wurde. Falls er stürzte und die Maske verlor, würde alles vergeblich gewesen sein.
Doch sie hatten es fast geschafft, hatten beinahe das Tor durchschritten. Shan ging näher an Winslow heran, um ihn notfalls zu stützen.
»Noch mal«, erschallte Padmes Stimme aus dem Lautsprecher. »Unsere verehrten Gäste möchten noch einmal die Tänzer sehen!«
Die Zuschauer jubelten. Shan verließ der Mut.
Winslow wandte sich um, so daß der Totenschädel Shan anzustarren schien. Dann folgten sie dem Beispiel der Tibeter. Während mehrere Mönche Fotos schossen, tanzten Shan, Winslow und der Abt von Sangchi für das Religionsbüro.
Eine halbe Stunde später nahmen sie im Schutz der Plane neben dem purba-Laster die Masken ab. Winslow war schweißüberströmt und wie betäubt, aber Lokesh konnte nicht aufhören zu lächeln. Er schwenkte noch immer die Arme wie zuvor in dem Kostüm und lachte, als Somo und Nyma ihm vom Rücken des Amerikaners halfen.
Erst
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