Das tibetische Orakel
Schlaflagers stand, und seiner Kehle entrang sich ein leises ersticktes Geräusch. Seine Finger zitterten. »Manche der dropkas bezeichnen Helikopter als >Himmelsdämonen<«, sagte er. Einer dieser Himmelsdämonen war gelandet und hatte seine Eltern verschlungen. So etwas kam manchmal vor. Wie aus dem Nichts tauchten Hubschrauber auf und schnappten sich jemanden, der nie mehr zurückkehrte. Auch in früheren Jahrhunderten sei so etwas schon passiert, hatte ein dropka einst Shan erzählt, aber damals hätten die Himmelsdämonen Blitze benutzt.
Lhandro starrte das Foto an und öffnete den Mund, als wolle er nach dem Warum fragen. Daß seine Eltern tot sein könnten, war schlimm genug, aber am meisten tat ihm weh, daß so viele Fragen offenblieben. Lhandro würde nie wissen, ob er die Todesriten abhalten sollte, wann oder wo er trauern konnte oder ob er die beiden in irgendeinem Gefängnis suchen mußte.
»Wir wollten doch nur unseren Gott zurück«, flüsterte Lhandro dem Bild zu. Dann sank er vor dem Dalai Lama auf die Knie und richtete ein Mantra an den Mitfühlenden Buddha.
Shan betrachtete das Zimmer. »Wieso haben die Soldaten das Foto nicht angerührt?« fragte er langsam.
Somo sah erst ihn und dann wieder das Bild des Dalai Lama an. Es zählte zu den Dingen, die den Soldaten verhaßt waren. Normalerweise hätten sie es mit dem Stiefelabsatz zertreten.
Lhandro hob verwirrt den Kopf. Somo ging in die Knie, ließ den Blick argwöhnisch durch die Kammer schweifen und sprang sofort auf, als Nyma von draußen eine Warnung ausstieß.
Auf dem Hang im Westen näherten sich zwei Gestalten. Sie bewegten sich nur gemächlich vorwärts und blieben mehrmals stehen, um die Landschaft zu ihren Füßen zu beobachten. Somo bedeutete den anderen, sie sollten hinter den Felsen in Deckung bleiben, bis schließlich klar wurde, daß es sich um Tibeter handelte. Beide trugen chubas und die größere Gestalt zudem einen runden Hut.
Durch sein Fernglas konnte Shan erkennen, daß sie sich an den Händen hielten. Dann setzten die Fremden sich in einiger Entfernung auf einen flachen Felsen.
Somo seufzte. »Wir können diese dropkas fragen, ob sie etwas gesehen haben. Aber zuerst sollten wir alles einpacken, was noch hier ist. Wir dürfen keine Spuren hinterlassen. Falls die Soldaten zurückkehren und diesen Ort für ein purba -Versteck halten, werden sie ihn in die Luft sprengen«, verkündete sie wütend und ging wieder hinein. Shan und die anderen folgten ihr.
Fünf Minuten später hielt Shan inne, weil er glaubte, Gelächter vernommen zu haben. Er sah Somo an, die ebenfalls lauschte. Sie ließen die Bündel los, die sie soeben verschnüren wollten, und wagten sich vorsichtig hinaus.
Dort war Anya in einer viel zu großen chuba und trat einen Apfel wie einen Fußball vor sich her, während jemand mit dem Rücken zu Shan und Somo ihr den Weg versperren wollte. Der Mann mit chuba und Hut. Anya lächelte überrascht und winkte Shan zu. Dann drehte der Mann sich um. Somo keuchte auf. Es war Oberst Lin.
Der Oberst erstarrte. Der Apfel rollte an ihm vorbei. Es mochte undenkbar erscheinen, aber einen Moment lang glaubte Shan, in Lins Gesicht so etwas wie Ausgelassenheit wahrzunehmen. Doch die Züge des Obersts verhärteten sich sofort, und der letzte Rest des Lächelns wich einem finsteren Blick.
»Immer noch auf der Flucht«, sagte Lin barsch, während Anya zu Nyma lief und sie umarmte. »Ich wußte, daß Sie nicht weit kommen würden.«
»Ich habe einen Lehrer, der sagt, es sei eines meiner Probleme, daß ich nie weglaufe«, erwiderte Shan mit ruhiger Stimme und musterte Lin. Die schwere chuba , die - wie Shan nun erkannte - Lhandros Vater gehörte, reichte bis weit über die Armeehose. Statt seiner Uniformjacke trug der Oberst ein rotes Hemd, wie es bei vielen dropkas üblich war. Sein Blick wirkte ungetrübt, seine Schritte fest und sicher. »Aber in Tibet läßt sich bisweilen nur schwer begreifen, was weglaufen bedeutet«, fügte Shan hinzu.
»Ich habe Aku Lin gezeigt, wo die rosafarbenen Blumen blühen, die Lammnasen heißen.«
Anya stellte sich vor den Oberst, als wolle sie ihn beschützen. »Und wir haben etwas Gemüse gefunden, das wir kochen können.«
Aku Lin. Sie hatte ihn Onkel Lin genannt. Shan starrte das Mädchen an. Ihre Anwesenheit bedeutete, daß es keinen Hubschrauber gegeben hatte. »Wie lange seid ihr hier schon allein?« fragte er.
»Drei Tage«, antwortete das Mädchen und kam näher. »Der Lama-Heiler
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