Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
meine Männer hinterhergeschickt, aber sie haben die Spur in den Bergen verloren.«
    Nachdenklich musterte Shan den Direktor. Tuan behauptete - oder wollte ihn zumindest glauben machen -, daß er nicht der Mörder war. »Derjenige, der da weggelaufen ist, war eventuell nicht der Täter, sondern ebenfalls ein Opfer.«
    Tuan schüttelte den Kopf. »Wir haben die ganze Stadt abgesucht, Straßensperren errichtet und vierundzwanzig Stunden lang sämtlichen Verkehr unterbunden. Falls der Mörder in der Stadt geblieben wäre, hätten wir ihn erwischt.«
    »Sie gehen von der Annahme aus, daß der Täter jemand ist, den Sie nicht kennen.«
    Tuan zuckte wie desinteressiert die Achseln. »Ich werde es zu Ende bringen und diesen Fall eigenhändig abschließen. Chao war einer meiner Leute. Ich allein treffe die Entscheidungen.«
    Es klang fast ein wenig entschuldigend.
    In Shans Magen breitete sich ein eisiges Gefühl aus. »Für öffentliche Hinrichtungen müssen Berichte verfaßt werden. Jemand in Lhasa wird es nachprüfen. Man wird in der Akte irgendwelche Beweise erwarten.«
    Tuan wirkte enttäuscht und vollführte eine Geste, die Shans Einwand vom Tisch zu wischen schien. »Nach so vielen Jahren in Tibet sollten Sie es eigentlich besser wissen«, sagte er spöttisch. »Wenn man beschließt, Ihnen eine Kugel in den Schädel zu jagen, dann nicht unbedingt deswegen, weil Sie es verdient haben, sondern weil dieser Tod Ihnen schon immer vorherbestimmt war.«
    Er lächelte selbstgefällig, als halte er diese Äußerung für besonders geistreich. »Das macht es für die Öffentliche Sicherheit hier wesentlich einfacher.«
    Shan erwiderte den kalten Blick. »Die Tibeter sagen auch, daß nichts im Leben isoliert geschieht, sondern sich stets auf alles andere auswirkt.«
    Tuan schürzte verächtlich die Lippen und warf einen Bleistift auf den Tisch. »Die nächsten paar Minuten werden die wichtigsten Ihres Lebens sein. Ich werde jetzt gehen und einen Posten vor die Tür stellen. Falls Sie zu fliehen versuchen, wird er Sie aufhalten, damit wir Ihre Füße einer kleinen Behandlung unterziehen und Sie nie wieder weglaufen können. Nach Abschluß der Feierlichkeiten fangen wir hier noch mal von vorn an, aber ich werde ein paar Helfer mitbringen. Sie sind nicht dumm. Sofern Sie bis zu meiner Rückkehr das richtige Geständnis verfassen, entscheide ich mich vielleicht, es zu behalten und Sie nicht zu töten, sondern Ihnen sogar einen Job zu geben.«
    Er nahm ein leeres Blatt Papier aus der obersten Schublade. Seine Stimme klang nicht gefühllos, sondern eher beiläufig. Stirnrunzelnd sah er Shan an, ging hinaus und schloß die Tür hinter sich.
    Shan starrte ihm kurz hinterher und versuchte immer noch, sich einen Reim auf diesen Mann zu machen. Nichts an Tuans Äußerungen ließ ernsthaft daran zweifeln, daß er der Mörder war, und dennoch hatte Shan seine Ansicht geändert. Es mußte an Tuans Tonfall, der fehlenden Wut oder Leidenschaft gelegen haben. Er war zu gleichgültig, zu abgelenkt, zu schwach, um Chao und Drakte eigenhändig zu erstechen. Allerdings konnte durchaus die Vermutung des Tigers zutreffen: Womöglich hatte Tuan den beiden eine Falle gestellt und dann mit schmalem Lächeln verfolgt, wie einer seiner Männer die Tat befehlsgemäß ausgeführt hatte.
    Shan schreckte hoch und lief zur Vorderseite. Vorsitzender Khodrak und Tenzin gaben sich für die Fotografen ein weiteres Mal die Hand. Er rannte zum anderen Fenster, das auf den Hof zwischen den Gebäuden hinausführte, und öffnete es. Nichts regte sich, nur die Fahnen flatterten im Wind. Die Leine mit den kleinen chinesischen Flaggen war an einem Eisenhaken über dem Fenster befestigt. Shan zog daran, erst vorsichtig, dann fester. Schließlich beugte er sich vor und zerrte mit beiden Händen. Das Seil riß aus der Verankerung an der gegenüberliegenden Fassade.
    Vom Korridor hörte er schwere Schritte. Er hielt inne, raste zum Schreibtisch, nahm sich das einzelne Blatt, das mittlerweile aus dem Faxgerät zum Vorschein gekommen war, riß das Foto des beschaulichen Häuschens von der Wand und eilte zurück zum Fenster, wobei er sich bereits die Papiere unter das Hemd stopfte. Dann griff er nach der nunmehr herabhängenden Leine, stieg hinaus und stand gleich darauf auf dem Hof.
    Im nächsten Moment bogen Tenzin und sein Wächter um die Ecke des Hauses und schritten auf die Tür des zweiten Gebäudes zu. Shan trat hinter ihnen ein. Nach wenigen Schritten tauchten vor ihnen

Weitere Kostenlose Bücher