Das tibetische Orakel
hat gesagt, ich soll bei Lin bleiben. Er sagte, so sei es für uns beide richtig.«
Sie schien in Shans Miene nach etwas zu suchen, dann bei Somo, bis sie sich zweifelnd zu der leuchtendweißen Bergspitze umwandte, als gehe etwas vor sich, das sie nicht verstand.
Shan mußte daran denken, wie fröhlich sie mit dem Oberst gespielt hatte. Auch das herzliche Lachen fiel ihm wieder ein. Es konnte nur von Lin gestammt haben. Jokar hatte recht, es schien für die beiden richtig zu sein. »Aber Jokar und die anderen wurden verhaftet. Wohin hat man sie gebracht?«
»Verhaftet?« rief Anya. »Nein. Sie haben gesagt, sie würden bald zurückkommen. Sie sind bloß nach Yapchi gegangen. Zuerst haben sie die ganze Nacht darüber geredet. Einmal bin ich aufgewacht, und Lepka.«
Sie schaute an Shan vorbei zu Lhandro, der soeben zum Vorschein gekommen war, und verstummte.
»Was?« fragte Lhandro. »Was war mit meinem Vater?«
»Er hat geweint«, räumte Anya kleinlaut ein.
Lhandro starrte vorwurfsvoll Lin an, und der Oberst ballte die Fäuste, als rechne er mit einem Kampf.
»Nein... es ging um die Heilung des Tals. Ich habe nicht alles verstanden. Sie haben über früher gesprochen, als er und Jokar noch Kinder waren.«
»Die Heilung des Tals?« wiederholte Somo. »Du meinst die Heilung der Bevölkerung.«
Anya schüttelte langsam den Kopf. »Genau das haben sie gesagt«, versicherte sie und sah Shan an. »Das Tal. Ich glaube, damit war unsere Gottheit gemeint, und sie schienen eine Idee zu haben, wohin sie gegangen sein könnte.«
Sie zuckte die Achseln. »Am nächsten Morgen sind sie ganz früh aufgebrochen.«
Ihr fragender Blick richtete sich auf Lhandro. »Stengelmänner. Jokar sagte, die Stengelmänner müßten gesegnet werden.«
»Medizin«, sagte Lhandro zu Shan und warf Lin mit unverhohlener Wut einen Blick zu. »Bestimmt sind sie deswegen losgezogen. Wegen der Kräuter, die Lokesh holen wollte.«
Doch Lin schien keine Kräuter mehr zu benötigen. Er hatte sich eindeutig von der Gehirnerschütterung erholt. Auch sein Handgelenk war nicht länger geschient, sondern nur noch bandagiert.
Schweigend standen sie da. Lin sah Shan an, ging zu dem Apfel und beförderte ihn mit einem kraftvollen Tritt über den Rand der Klippe.
»Ihr Brief wurde zugestellt«, sagte Shan zu dem Oberst.
»Man weiß nun, daß Sie noch am Leben sind.«
»Ich werde zu meinen Männern zurückkehren«, erwiderte Lin schroff, als habe jemand das Gegenteil behauptet. Dann ging er weg und setzte sich hinter dem knorrigen Baum auf einen Felsen.
Anya schaute ihm besorgt hinterher. »Er hatte eine viel jüngere Schwester, aber sie ist gestorben. Die Roten Garden. Dann all die Jahre bei der Armee. Einmal hat er ein ganzes Jahr in einem Berg in der Nähe von Indien gelebt.«
Sie sah Shan und Nyma an. »Er hat nie gelernt, seine innere Gottheit zu ehren. Ich glaube, er weiß nicht mal, wie man sie findet.«
Aus irgendeinem Grund klang das, als sei er deswegen unter den Felsen verschüttet worden.
»Du mußt ihn nach unten bringen«, mahnte Somo. »Er ist zu gefährlich. Falls er bleibt, wird er uns großen Schaden zufügen.«
Anya schaute hinaus über die Ebene. Shan war sich nicht sicher, ob sie es gehört hatte. »Vor seinem Tod ist mein Großvater mit mir oft zu dem kleinen Obstgarten gegangen, den er auf den Hängen angelegt hatte.«
Die Stimme des Mädchens übertönte kaum den Wind. »Dort hat er mir gezeigt, daß manche Bäume verkümmern, wenn man sie nicht vor der Kälte bewahrt. Also hat er für die meisten von ihnen einen kleinen Schutz aus Steinen errichtet, aber ein oder zwei blieben stets unbehütet, damit er die Lehre nicht vergaß. Die Bäume, die all ihre Kraft für das reine Überleben aufwenden mußten, haben nie Früchte getragen.«
»Bring ihn nach unten«, sagte Nyma eindringlich. Sie sah, daß Anyas Augen feucht schimmerten, und daher nahm sie das Mädchen fest in den Arm. »Unterhalb von Chemis Dorf gibt es einen alten chorten. Dort treffen wir uns morgen mittag, so daß uns noch genug Zeit bleibt, um nach Yapchi zu gehen. Ein paar der Dorfbewohner sind vielleicht in die kleine Schlucht zurückgekehrt, und wir können womöglich herausfinden, was mit Lepka und Jokar geschehen ist. Wenn wir uns aus tiefstem Herzen an die Chinesen wenden, begreifen sie es vielleicht«, schloß sie, aber ihre Zweifel waren nicht zu überhören.
Anya biß sich auf die Unterlippe und musterte Nyma fragend. »Man hat Jokar Rinpoche
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