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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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überlegte Shan. Er hatte bisher nicht ausreichend berücksichtigt, was Khodrak und Tuan sich von diesem merkwürdigen Spiel versprachen. »Ihr Foto in der Zeitung von Lhasa? Ein Glückwunschschreiben aus Peking?«
    Für einen Mann, der Trophäen in einem verstaubten Karton aufbewahrte, war so etwas wohl kaum von Bedeutung. Shan erinnerte sich an die Tafel im Besprechungszimmer, an die Liste, die sich wie ein Manifest gelesen hatte. »Die Schule? Ein Denkmal in Amdo?«
    Tuans Gesicht erstrahlte auf seltsame Weise. »Klarheit«, sagte er mit matter Stimme. »Ich will nur Klarheit.«
    Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und hielt sie sich unter die Nase, genau wie kürzlich während der Unterredung in dem kleinen Büro im Erdgeschoß. Seine Krankheit mußte weit fortgeschritten sein, erkannte Shan. »Die Leute in Tibet haben ein Problem: Man hat ihnen angewöhnt, sich mit wenig zu begnügen. Es gibt hier wahre Reichtümer in der Erde. Sobald wir vorgemacht haben, wie es geht, wird alles möglich sein.«
    Wir. Er meinte Khodrak und sich selbst. Er meinte den Bezirk, seinen Bezirk, der beispielhaft für die Entwicklungsmöglichkeiten stehen sollte. Die Nutzung eines Wirtschaftsunternehmens als Politmodell war ein staubiges altes Paradigma. Die Regierung würde ein solches Vorhaben durch massive Subventionen stützen, um den Erfolg zu garantieren und diesen dann als Beweis für die Richtigkeit der eigenen Politik zu werten. Viele von Pekings beeindruckendsten Modellen hatten sich später als bewußte Täuschungen erwiesen, die allein auf Korruption und gefälschten Produktionszahlen basierten. Shan mußte an die Fotografen denken, an die Mönche, die mit den Hämmern posiert hatten, die Bilder von Padme und seinem Gefolge mit den Jugendlichen in neuer Kleidung, die Ärzte mit den jungen tibetischen Müttern. Tuan und Khodrak beherrschten das Spiel sehr gut. Sie hatten alles in einen Topf geworfen, dabei die Wahrheit und sogar die Regeln der Klarheitskampagne ignoriert, und sich statt dessen an die Vorgehensweise gehalten, die Tuan im Verlauf seiner langen Parteikarriere in Fleisch und Blut übergegangen war. Ihre Schule konnte schnell den Status einer Körperschaft erlangen, und dank der Kontrolle über das maßgebliche Wirtschaftsunternehmen der Region würden sie über ein kleines Königreich gebieten.
    »Mein Partner hat der öffentlichen Sicherheit die Information zugespielt, Chaos Mörder sei nach Qinghai geflohen. Das war riskant. Meine ehemaligen Kollegen können recht übereifrig sein.«
    Shan starrte den Direktor an und versuchte zu begreifen, was in diesem Mann vorging. Tuan war früher selbst einer dieser eifrigen Kriecheroffiziere gewesen, er hatte den Dienst quittiert und sich zurückgezogen, eine neue Laufbahn angefangen und war letztlich noch härter, gefühlloser und verbitterter geworden. »Ihr Partner ist ein fleißiger Mann.«
    Tuan lachte auf. »Als Donnerkeil kann man eben schnell handeln und hart zuschlagen.«
    Es klang wie ein fader Witz.
    Shan biß die Zähne zusammen. Guru Dorje , hatte in der Notiz gestanden. Guru Donnerkeil. Es war Khodraks Spitzname. Doch Shan kannte diesen Namen noch von einem anderen Stück Papier, nämlich von dem gelben Zettel, den Somo in Draktes Stiefel gefunden hatte, der Datensammlung über die Soldaten der öffentlichen Sicherheit.
    »Ihr Partner hat Chao um Informationen über Ihre Mitarbeiter gebeten.«
    Shan ließ Tuan nicht aus den Augen. Chao hatte die Liste nicht für Drakte zusammengestellt. Vielleicht hatte er sie hervorgeholt und Drakte gezeigt, als der Mörder kam, doch eigentlich war sie für Khodrak bestimmt gewesen.
    Direktor Tuan erwiderte nichts, sondern starrte Shan wütend an und schien nicht zu bemerken, daß das Faxgerät neben seinem Schreibtisch zu summen begann. Dann schaute er mit gekünsteltem Lächeln zum Podium hinaus und danach seltsamerweise zu dem Foto des Landhauses am See.
    »Ich habe diesen Chao gemocht«, gestand Tuan. »Er war der einzige von meinen Leuten, der Witze erzählt hat. Und wenn die Hirten mal zu dickköpfig wurden, konnte er die Sache wieder einrenken.«
    Die Augen des Direktors verengten sich. »Ich habe ihn in diesem alten Stall gefunden. Er war erst wenige Minuten tot, sein gesamter Rücken aufgeschlitzt wie ein Schwein beim Schlachter. Zuerst habe ich gedacht, es sei seine Blutspur, aber dann wurde mir klar, daß er mit einer solchen Wunde niemals genug Kraft gehabt hätte, um wieder aufzustehen. Ich habe

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