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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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als Winslow sich aufrichtete, wurde ihm anscheinend klar, daß der Arzt ihm im Handgemenge die Hemdtasche zerrissen hatte. Verwirrt hob er das Stück Stoff an, das nur noch an wenigen Fäden vor seiner Brust hing. »Hatte ich etwa eine Visitenkarte da drin?« fragte er mit hohler Stimme.
    Shan zuckte langsam die Achseln.
    Winslow erwiderte die Geste. »Zum Teufel damit. Wir haben's den Mistkerlen gezeigt.«
    Er ließ seine Hand in Schulterhöhe kreisen, als würde er eine Seilschlinge werfen.
    Die purbas machten sich schweigend daran, den letzten Teil des Plans in die Tat umzusetzen. Am Tor des Klosters liefen die geschmückten Yaks herum. Die Kinder tollten mit ihren Hunden zwischen den Bänken umher. Die dropkas mit den Trommeln und damyen saßen vor dem Podium und spielten Musik, während die purbas Lokesh in eine Decke wickelten und auf die Ladefläche hoben, dicht gefolgt von Tenzin und Shan. Fünf Minuten später bogen sie auf die Zufahrtstraße ein und entfernten sich von Norbu.
    Irgendwo hinter ihnen hupte plötzlich ein Fahrzeug, als wolle es sich dringend einen Weg durch die Menge bahnen. Sie beschleunigten.
    »Die würden die Armee niemals in einem Wagen verfolgen, nicht quer durchs Gelände«, stellte Lhandro entsetzt fest, als das Hupen näher kam. »Die müssen hinter uns her sein.«
    »Somo! Wo ist Somo?« rief einer der purbas.
    Erschrocken sah Shan, daß eines der weißen Geländefahrzeuge das Kloster verließ. Er warf eine Decke über Tenzin und Lokesh und beobachtete, wie der Wagen zum Überholen ansetzte.
    Doch man wollte sie gar nicht stoppen. In dem Wagen saßen fünf von Tuans Schreihälsen und winkten sie ungeduldig beiseite. Dann rasten sie an ihnen vorbei.
    Als ihr alter Lastwagen langsam zurück auf die Straße rumpelte, erschien eine Hand an der Ladeklappe, und Somo schwang sich hinein. Sie wirkte auf seltsame Weise stolz und ängstlich zugleich.
    »Ich konnte mir nicht erklären, warum die so schnell aufgegeben und nicht mal versucht haben, die Soldaten einzuholen«, erzählte sie beunruhigt. »Also bin ich in die Nähe der Rednertribüne gegangen. Padme kam mit einem Fax nach draußen gerannt und blieb bei Khodrak und den Funktionären, bis diese die Nachricht gelesen hatten. Zuerst stand Khodrak einfach da und gab Worte von sich, die kein Mönch jemals äußern sollte. Dann ging etwas in ihm vor, und er lächelte. Er sagte, sie könnten es der Armee nun heimzahlen. Der Abt von Sangchi sei vielleicht ein legitimer Gefangener der Soldaten gewesen, aber jetzt habe die Armee jemanden ergriffen, der rechtmäßig ihm zustünde. Er habe den Beweis aus den alten tibetischen Büchern. Es würde ein noch größerer Sieg als die Entdeckung des fliehenden Abtes sein, denn es gebe im ganzen Land niemanden, der die alten überkommenen Werte auf bessere Weise repräsentiere.«
    Somo sah voller Sorge erst Shan, dann Tenzin an. »Was für eine Lektion wir in Yapchi erteilen können, hat Khodrak gesagt. Was für einen Sieg wir erringen werden.«
    Es konnte nur eines bedeuten. Der uralte Lama-Heiler war auf dem Berg bei Lin zurückgeblieben, doch den Soldaten mußte es letztlich gelungen sein, ihren Oberst aufzuspüren, und nun hatte Lin sein Versprechen wahr werden lassen. Er hatte Jokar verhaftet.

Kapitel 17
    Als sie am nächsten Morgen das Mischsims erreichten, war niemand mehr da.
    »Die Soldaten«, sagte Somo klagend und ging mit einer Butterlampe durch die leeren Kammern. »Bestimmt haben sie mit Hubschraubern gesucht, und Lin konnte sich irgendwie bemerkbar machen. So haben sie dann Jokar Rinpoche gefunden.«
    Außerdem Lhandros Eltern und Anya, dachte Shan verbittert. Sie waren alle weg. »Es bedeutet, daß wir auch nicht bleiben können«, sagte er. »Wir müssen zu der Wasserhöhle zurückkehren.«
    Winslow, Tenzin und die anderen purbas hatten Lokesh auf einer Trage zu Larkins Höhle gebracht. Shan, Somo und Nyma waren mit Lhandro zu dem kleinen Plateau weitergeeilt.
    Die kargen Habseligkeiten der Verschwundenen lagen unangetastet in den Räumen verstreut, als wäre den Leuten keine Zeit mehr zum Packen geblieben. Bekümmert hockte Lhandro sich neben die leere Bettstatt seines Vaters. Seine Eltern würden die Haft nicht lange überleben. Als er aufbrach, hatten die beiden sich fröhlich mit dem Lama-Heiler unterhalten, doch dann hatte man sie fortgeschleppt in eine brutale, seelenlose Welt, die sie niemals verstehen würden. Er berührte den Rahmen der Fotografie, die am Kopfende des

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