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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Stelle zu rühren, bis die Zeremonie abgeschlossen sein würde.
    »Der Gott, den du findest, Shan, wird der Gott sein, den du mit dir nimmst«, sagte Gendun ruhig, bevor er sich wieder Drakte widmete.
    Als Shan nach draußen trat, bemerkte er, daß die Haare auf seinen Armen sich aufgerichtet hatten. Einen Moment lang verharrte er völlig reglos und sah seine Hände an. Sie zitterten. Langsam und mit unsicheren Schritten ging er zu seinem Pferd und ignorierte die aufgeregten Gesten des golok , der ihn zur Eile mahnte. Als er die Zügel nahm, drehte er sich zu Somo um, die in der Tür der lhakang stand. »Sie haben uns noch gar nicht verraten, welche Nachricht Sie Drakte überbringen wollten«, sagte er.
    Die Läuferin runzelte die Stirn. »Es war eine purba - Botschaft.«
    »Es ging um das Auge«, stellte Shan fest. »Ansonsten wären Sie nicht hergekommen.«
    »Die Regierung durchkämmt die Berge nach nicht registrierten Lamas.«
    »Nein. Das wußten wir bereits.«
    Somo warf einen Blick auf die Totenhütte und kam dann widerstrebend an Shans Seite. »Also gut. Wir waren der Meinung, Drakte hatte keine Ahnung. Er mußte gewarnt werden, bevor er mit Ihnen in dieses Tal aufbrechen würde. Sie ziehen nach Norden, eine Stabseinheit aus Lhasa. Das war meine Nachricht. Eine kleine Einheit.«
    Sie biß sich auf die Lippe. »Ein Zug Soldaten, das wollte ich Drakte ausrichten.«
    »Tut mir leid«, sagte Shan, »aber das verstehe ich nicht.«
    »Ich schätze, es bedeutet, daß Sie sich nun beeilen müssen. Dieser golok kennt hoffentlich ein paar geheime Schleichwege.«
    Sie sah die Verwirrung in Shans Augen und blickte zu Nyma. »Niemand hat Ihnen von der Auseinandersetzung um dieses alte Steinauge erzählt? Es gibt noch andere Leute, die sich für die rechtmäßigen Eigentümer halten. Es wurde ihnen in Lhasa entwendet, und sie wollen es zurückhaben.«
    »Wer?« fragte Shan mit einem flauen Gefühl im Magen.
    Somo biß sich abermals auf die Lippe. Dann antwortete sie ganz langsam und in eisigem Tonfall. »Die 54. Gebirgsjägerbrigade der Volksbefreiungsarmee.«

Kapitel 3
    Sie ritten nicht wie erwartet nach Norden, sondern nach Westen und erklommen den hohen Grat am anderen Ende des langen Tals, um den Abstieg in Richtung der zweiten schneebedeckten Bergkette zu beginnen, die dahinter lag. Als sie sich oben auf dem Kamm befanden und das Tal, das zu der Einsiedelei führte, hinter ihnen zurückfiel, ließ Shan sein Pferd anhalten und sah, daß Dremu im Trab vorausritt, um den Weg zu erkunden. Er drehte sich nach der dropka um, die immer noch Steine aufhäufte, um die Lamas zu beschützen. Bis zu Shans Eintreffen hatte Gendun sich in seinem geheimen Kloster bei Lhadrung in Sicherheit befunden. Wäre Shan nicht gewesen, hätte der Lama sich vielleicht niemals schutzlos in die Außenwelt begeben müssen.
    »Als wir hier angekommen sind, noch vor der Arbeit an dem Mandala, habe ich mit Shopo gesprochen«, sagte Lokesh neben ihm. Der alte Mann verfügte über die unheimliche Fähigkeit, in Shans Gefühlen wie in einem Buch lesen zu können. »Sie haben Gendun gar nicht gekannt. Er tauchte einfach hier auf, setzte sich in die lhakang und betrachtete stundenlang das Steinauge. Dann trank er mit Shopo einen Tee und sagte, er würde dieses Auge nun kennen und wissen, wer es zurückbringen mußte, so sicher, als hätte er es einem Verzeichnis zukünftiger Ereignisse entnommen. Shopo sagte, er selbst sei keineswegs davon überzeugt gewesen, aber Gendun habe sich nicht beirren lassen. Er wußte, daß du es sein würdest. Er sagte, du hättest nicht nur ein reines, sondern auch ein großes Herz, so groß, daß es dir eine Last sei.«
    So groß, daß der Schmerz Shan beinahe überwältigte.
    Falls der Mörder es auf das Auge abgesehen hatte, blieb ihm keine andere Wahl, als es von den Lamas wegzubringen. Und nur so würde er den Mörder finden können. Er konnte die Lamas nur beschützen, indem er sie verließ.
    Shan warf Lokesh einen unbehaglichen Blick zu. Der alte Tibeter lächelte, beugte sich wie ein schelmischer Onkel vor und zog Shan die Hutkrempe über die Augen. Dann ritt er auf ein paar Blumen zu. So reiste Lokesh immer: nicht in gerader Linie, sondern von Blume zu Blume oder von Felsen zu Felsen, um stehenzubleiben und die Formen der Natur zu untersuchen, die aus irgendeinem Grund seine Neugier erregt hatten. Shan sah dem golok hinterher, der dermaßen schnell davonritt, daß es fast wie eine Flucht wirkte. Er traute dem Mann

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