Das tibetische Orakel
nicht. Aber Drakte hatte ihm vertraut; zumindest wollte Dremu das Shan und die anderen glauben machen. Dremu wußte von dem Auge, doch keiner der Überlebenden kannte ihn. Offenbar hatte Drakte ihn gekannt, aber woher? Aus dem Gefängnis, schien die einzig logische Antwort zu lauten. Shan überprüfte den Sitz seiner Satteltasche und ließ zögernd das Pferd antraben.
Drei Stunden später erwartete Dremu sie auf dem ersten Kamm der zweiten Bergkette an einem gewundenen Ziegenpfad, der mitten durch einige Schneeflächen verlief. Die Luft dahinter schimmerte immer noch, wie schon aus einiger Entfernung, und als sie den Grat erreichten, erkannte Shan auch den Grund dafür.
»Lha gyal lo!« rief Lokesh, der hinter Shan folgte, mit kindlicher Ausgelassenheit, und deutete auf die riesige, flache türkisfarbene Ausdehnung, die unterhalb die Landschaft dominierte. »Lamtso!«
Shan starrte auf das ferne Gewässer. Es sah wie ein langes Juwel aus, dessen Einfassung aus Bergen bestand. Der Lamtso war einer von Tibets heiligen Seen, in dessen Tiefen bekanntlich wichtige nagas wohnten und an dessen Ufer die dropkas bevorzugt ihre Herden weiden ließen.
Aus einer Tasche, die an seinem Sattel hing, zog der golok eine große Plastikflasche hervor, die allerdings nicht mit Wasser, sondern mit bernsteinfarbenem chang gefüllt war, tibetischem Gerstenbier. Er öffnete sie nicht, sondern musterte kurz die Gesichter seiner Begleiter. »Wir übernachten dort«, verkündete er und wies auf den See. »Falls wir nicht noch lange herumtrödeln«, fügte er stirnrunzelnd und mit Blick auf Lokesh hinzu. Der golok hielt inne und suchte mit zusammengekniffenen Augen den Horizont hinter ihnen ab. Shan folgte seinem Blick zu dem Tal, das sie soeben durchquert hatten. Ein kleine Gruppe Reiter war dicht hinter ihnen und hatte ebenfalls angehalten und sich verteilt, anscheinend um sie nach hinten abzusichern.
»Diese dropkas sind wegen dir beunruhigt, Chinese«, sagte Dremu. »Sie wollen dir den Rücken freihalten, aber sie wissen nicht, womit sie rechnen müssen. Wie viele Tibeter bist du wert, Genosse?« fragte er mit bitterem Blick. Dann trieb er sein Pferd zum Galopp an und verschwand hinter einer Wegbiegung.
Nach einer Viertelstunde holten sie ihn ein. Er wartete an einem großen Felsvorsprung, hatte ein Bein über den Hals seines Pferdes gelegt und fast die halbe Flasche ausgetrunken. Als Nyma und Tenzin an ihm vorbeireiten wollten, hob er warnend die Hand. »Das würde ich lieber nicht tun.«
»Ich glaube, wir finden von hier aus allein zum See«, gab Nyma ungehalten zurück.
Dremu deutete nach unten. Über dem einfachen Weg, der durch die sanft wogenden Hügel zum See führte, hing eine Staubwolke. Shan griff in den Schnürbeutel an seinem Sattel, nahm sein abgewetztes Fernglas, richtete es auf die Wolke und seufzte. Dann reichte er den Feldstecher an die Nonne weiter.
»Die Armee!« keuchte Nyma.
»Ein Laster«, knurrte der golok. »Nicht mehr als fünf oder zehn Soldaten.«
Mit einem Gefühl der Beklemmung verfolgte Shan das sich nähernde Fahrzeug. Es war noch mehr als drei Kilometer entfernt und fuhr nicht auf sie, sondern auf den See zu. Dann jedoch hielt der Lastwagen an. Die Nonne schrie auf und duckte sich, als wolle sie sich hinter dem Pferdehals verstecken. »Ich habe etwas aufblitzen gesehen. Ich glaube, sie suchen die Berge mit Ferngläsern ab.«
Der golok sah sie finster an. »So machen die Soldaten das für gewöhnlich. Es könnte alles mögliche bedeuten. Vielleicht begleiten sie einen Geburtenkontrolleur«, sagte er und bezog sich damit auf die verhaßten Bürokraten, die die Einhaltung von Chinas Geburtenregelung überwachten. »Vielleicht jagen sie auch wilde Ziegen. Oder sie suchen etwas, das ihnen gestohlen wurde«, fügte er mit bedeutungsvollem Blick auf Shan hinzu und griff nach dem Fernglas. »Der Wagen ist in Grautönen lackiert. Das könnten Gebirgstruppen sein.«
Es klang wie ein Fluch. »Da wären mir die verdammten Kriecher ja noch lieber.«
Shan wandte sich um. Lokesh hatte sich abermals ein Stück zurückfallen lassen und sein Pferd angehalten, um den Flechtenbewuchs eines Felsens anzustarren. Seit ihrer Pilgerfahrt suchte sein Freund immer häufiger nach eigenständigen Symbolen Buddhas - nach Naturelementen, welche die Form eines heiligen Gegenstands angenommen hatten. Mehr als einmal hatte er ein Kleidungsstück oder etwas Nahrung aus seinem Schnürbeutel zurückgelassen, um Platz für einen
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