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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Toten. Eine Stimme wie die des Lama hatte Shan nie zuvor gekannt. Genduns Worte kamen ihm oft nur flüsternd über die Lippen, aber dieses Flüstern war so klar und kraftvoll wie eine große Glocke. »Da war nur noch Traurigkeit, weil er wichtige Dinge unvollendet zurücklassen mußte. Er kann nur sehr schwer loslassen.«
    Die Tibeter glaubten, daß nach dem Tod eine Zeitspanne von bis zu mehreren Tagen folgte, während der ein Geist verwirrt war und das Ende seiner Inkarnation nicht akzeptieren konnte, so daß er versuchte, den verlorenen Körper neu zu beleben und unerledigte Aufgaben abzuschließen.
    »Rinpoche«, sagte Shan, »das Steinauge liegt in der Satteltasche eines Pferdes.«
    Sein Blick ruhte auf dem Leichnam. »Aber ich kann das nicht ohne dich tun.«
    »Drakte wird lernen, seinen Körper zurückzulassen, mein Freund. Du mußt das ebenfalls.«
    »Drakte hat sein Leben verloren. Dieser dobdob könnte zurückkehren.«
    Shan wandte den Kopf, sah in eine der kleinen Flammen und empfand plötzlich nur noch Trostlosigkeit. Erst wenige Stunden vorher war er zu dem Schluß gelangt, es gäbe nichts Wichtigeres, als den Stein zurückzubringen, der ihm genau wie den Tibetern als eines der Samenkörner erschien, die eingepflanzt werden mußten, um Weisheit und Mitleid am Leben zu erhalten. Draktes Ankunft in der lhakang hatte alles verändert. Wenngleich Gendun und Lokesh ihm widersprechen und behaupten würden, Shan verleugne seine eigene Gottheit, mußte er das Rätsel um Draktes Tod lösen. Mochte die Rückkehr des Auges auch noch so wichtig sein, so gab es doch etwas, wofür er sogar seinen inneren Gott opfern würde, und das war die Sicherheit der alten Tibeter.
    »Ein Tal voller Menschen hat seinen Gott verloren«, entgegnete Gendun. Er ließ die Worte einen Moment im Raum stehen, bis Shan ihm wieder in die Augen sah. »Dies wird deine größte Prüfung sein. Sieh nach vorn. Sieh in dich hinein, aber sieh nicht zurück. Du mußt aufhören, der Sucher zu sein, der du früher warst, und statt dessen der Sucher werden, der du sein möchtest.«
    Sie hatten schon oft darüber gesprochen. Shans größte spirituelle Schwäche war seine Fixiertheit auf die Abläufe dessen, was Gendun als vergängliche, unwichtige Geheimnisse der Außenwelt bezeichnete, wo er doch eigentlich die Tiefen der eigenen Seele ergründen sollte.
    »Du mußt aufhören, nach Fakten zu suchen, und ein Erforscher der Wahrhaftigkeit werden«, sagte Gendun. »Auf diese Weise werden Gottheiten erneuert.«
    »Rinpoche, versuch nach dem durtro nicht, uns zu finden«, sagte Shan auf einmal. Gendun sah ihn an, und er errötete. Seine Worte klangen, als wolle Shan feilschen und Gendun ersuchen, wenigstens diesmal an die Gefahren zu denken, die er sonst immer ignorierte. »Du mußt nach Yerpa zurückkehren«, sagte Shan. Yerpa war das versteckte Kloster im Innern eines Berges oberhalb von Lhadrung, in dem Gendun einer Handvoll Mönche als oberster Lehrer vorstand. »Bitte.«
    »Meine Stiefel.«
    Gendun nickte in Richtung seiner alten Arbeitsstiefel, deren Sohlen sich an den Zehen bereits ablösten. »Meine Stiefel sind müde«, sagte er, als würde er einwilligen. »Aber zuerst muß ich den irdischen Teil von Drakte der Erde wieder zurückgeben«, schloß er leise und schaute kurz zu dem Toten, bevor er sich wieder an Shan wandte. »Möge der Mitfühlende Buddha dich beschützen.«
    Ein einzelnes, vertrocknetes braunes Blatt wehte zur Tür herein. Schweigend verfolgten sie, wie der Wind es wieder hinauszog, vorbei an den Gebäuden trug und dann hoch in die Luft wirbeln ließ, bis es außer Sicht verschwand. Beide starrten sie den leeren Fleck an, auf dem es eben noch gelegen hatte; dann - als wäre das Blatt ein Signal gewesen - drehte Gendun sich zu Drakte um und bedachte Shan mit einem letzten kurzen Blick, der auf seltsame Weise zugleich besorgt und hoffnungsvoll wirkte. »Nimm dich vor Staub und Luft in acht«, sagte er abschließend. Dann setzte er sich und stimmte erneut den Bardo-Ritus an.
    Nimm dich vor Staub und Luft in acht. Es war einer von Genduns üblichen Abschiedsgrüßen, mit denen er ausdrücken wollte, man solle sich nur auf das tatsächliche Wesen dessen konzentrieren, was einem begegnete.
    Aus irgendeinem Grund machte Shan an der Tür noch einmal kehrt. Gendun hielt inne und hob langsam den Kopf. Einen Augenblick herrschte absolute Stille, und Shan mußte gegen den Drang ankämpfen, sich neben Gendun zu setzen und nicht mehr von der

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