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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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versichern, daß sie seiner Bitte entsprechen würde.
    Er sah, daß Lhandro am Eingang auf ihn wartete, nickte dem Bauern zu und ging neben Lokesh in die Hocke. »Die rongpas haben Lastwagen. Bleib bei den anderen. Sie werden die purbas finden, und die purbas werden dich zurück nach Lhadrung bringen.«
    Sein Freund streckte den Arm aus und nahm Shans Hand. »Wir haben dies gemeinsam angefangen«, sagte Lokesh gequält.
    »Und ohne dich hätte ich es nie geschafft, alter Freund.«
    Shan drückte Lokeshs Hand und ging dann schnell zum Höhleneingang.
    »Du wirst schon sehen«, rief Lokesh ihm hinterher. »Wenn ich erst mal aus Peking zurück bin, wird alles besser.«
    Shan drehte sich ein letztes Mal um. »Falls du in die Hauptstadt gehst, werde ich dich nie wiedersehen.«
    Seine Gefühle wurden übermächtig. Wenn er nicht bei Lokesh blieb, konnte er ihn auch nicht von der Reise nach Peking abhalten. Aber um Jokar zu retten, mußte er ins Tal.
    Lokesh umfaßte mit einer Hand sein gau und winkte mit der anderen zum Abschied.
    Somo und Nyma folgten Shan, als er das Sims über dem Wasser erreichte. »Lha gyal lo« , sagte er leise zu ihnen und sah Somo in die Augen. »Sie können Tenzin immer noch wie geplant nach Norden schaffen. Halten Sie sich von der Ölfirma fern. Reisen Sie im verborgenen. Sie müssen die Sache zum Abschluß bringen.«
    Er registrierte die grimmige Entschlossenheit der beiden Frauen. »Wenigstens einer der viele Pläne muß gelingen«, fügte er hinzu und bemühte sich, nicht allzu niedergeschlagen zu klingen. Er wandte sich zum Pfad um. Die Frauen folgten ihm weiter.
    Er blieb stehen. »Ich muß gehen«, erklärte er mit matter Stimme. »Es ist vorbei. Drakte würde sich über Tenzins Rettung freuen.«
    Doch sie folgten ihm den Pfad hinauf. Plötzlich tauchte vor ihnen im Dunst eine Gestalt auf: Tenzin betrachtete die wirbelnden Wolkenfetzen. Ein Stück oberhalb standen Lhandro und Winslow, der seinen Rucksack in der Hand hielt.
    »Nach Norden«, flehte Shan. »Du wirst draußen erwartet«, sagte er zu Tenzin. »In Amerika.«
    Der Lama starrte weiterhin in den Nebel. »Es gibt heute keinen Pfad nach Norden.«
    »Wäre es denn besser, wenn Jokar und du alle beide zugrunde gingen?« fragte Shan.
    »Wenn ich nach Norden fliehe und nicht einmal versuche, Jokar aus den Händen der Soldaten zu befreien, werde ich ganz sicher zugrunde gehen«, entgegnete Tenzin mit schwachem Lächeln.
    Shan blickte in den Strudel. Womöglich wäre es in einer der verborgenen Welten schöner und besser als hier, wo so viel Schmerz herrschte. Gegen die Soldaten und Schreihälse hatten sie keine Chance. Doch um ihrer Seelen willen würden die Tibeter lieber als Häftlinge enden oder sterben, als zu fliehen und Jokar im Stich zu lassen.
    »Wieso kannst du darauf bestehen, ins Tal zu gehen, und uns diese Möglichkeit verweigern?« fragte Tenzin langsam.
    Weil ich hier der einzige bin, der nichts zu verlieren hat, wollte Shan antworten, der einzige, den man nicht vermissen wird, der einzige, der den Lamas so unendlich viel schuldet. Doch dann riß Somo ihm den Beutel von der Schulter und lief den Pfad hinauf.
    Erst nach einer Stunde holten Shan und Nyma sie ein. Sie stand allein auf einem Felsvorsprung, von dem aus man im Norden und Westen die wogenden, in ihrer Kargheit wunderschönen Bergkämme überblicken konnte, die zum Tal von Yapchi führten. In einer Hand hielt Somo den türkisfarbenen Stein, den Drakte ihr geschenkt hatte. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, den Shan zum erstenmal an ihr sah; es war die Miene einer wilden Kriegerin, einer Schutzdämonin. Er erschauderte. Somo schien sich von irgend etwas zu verabschieden. Von den Bergen, die sich auf ewig verändern würden, sobald das Öl floß? Oder gar vom Leben selbst? Sie stieg hinab, um gegen die chinesischen Soldaten zu kämpfen. Er musterte den Stein in ihrer Hand. Drakte wäre am liebsten Mönch geworden, doch Peking hatte es verhindert. Sie wäre am liebsten Lehrerin geblieben, doch Peking hatte es verhindert. Dann hatten diese beiden von Peking Verstoßenen sich getroffen und ineinander verliebt. Aber es war ihnen nicht vergönnt gewesen, dieses Leben gemeinsam zu verbringen, denn Peking hatte es verhindert.
    Somo drehte sich mit gezwungenem Lächeln um und schaute den Pfad hinauf, auf dem in einiger Entfernung Lhandro und Tenzin zu sehen waren.
    Eine Weile später durchquerten sie schweigend die Ruinen von Chemis Dorf und steuerten den chorten an, bei dem

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