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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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sie sich mit Anya treffen wollten. Als der bröckelnde Schrein in Sicht kam, wies Nyma erleichtert auf eine kleine Gestalt, die den chorten umrundete, und beschleunigte ihren Schritt. Sie waren keine hundert Meter mehr entfernt, als Shan stehenblieb und die Hand hob.
    »Sie ist es, ganz sicher«, rief Nyma und fing an zu winken, um das Mädchen auf sich aufmerksam zu machen. Dann folgte sie Shans Blick und ließ die Hand langsam sinken. Zehn Meter vor ihnen saß Lin am Boden und hatte die chuba wie eine Decke unter sich ausgebreitet. Der Oberst beobachtete Anya mit schwermütigem Lächeln. Er trug seine Uniform, nur daß aus der Brusttasche ein kleiner Heidekrautzweig ragte. Als Shan näher kam, blickte Lin auf, und das Lächeln verschwand.
    »Es heißt, man würde heute oder morgen auf Öl stoßen«, sagte Shan und hockte sich neben ihn. »Ein paar hohe Tiere sind bereits zum Tal unterwegs.«
    Lin nickte langsam.
    »Ich kann mich an diese Schneeraupen erinnern«, sagte der Oberst unversehens mit zögernder, hohler Stimme, als fühle er sich aus irgendeinem Grund genötigt, das Gespräch vom Vortag fortzusetzen. »Gestern abend ist mir plötzlich wieder eingefallen, daß immer diese Frauen gekommen sind, um den Schnee wegzukehren, genau wie Sie erzählt haben. Die kleinen Spatzen waren manchmal ganz taub vor Kälte und wurden ebenfalls weggefegt. Hin und wieder ist mein Vater rausgegangen und hat nach den Vögeln gesucht, sobald die Raupe weitergezogen war. Wenn er einen fand, steckte er ihn in die Tasche und brachte ihn mit zu uns nach Hause. Am Nachmittag, wenn der Spatz sich aufgewärmt hatte, haben wir ihn wieder freigelassen. Unser Blockwart war eine Frau. Eines Tages berief sie eine Versammlung ein und schüttete einen Jutesack auf dem Tisch aus. Darin lagen etwa zwanzig tote Spatzen. Sie sagte, von nun an sei es unsere patriotische Pflicht, die Vögel nach dem Vorbeizug der Straßenkehrerinnen aus dem Rinnstein zu sammeln und aufzuessen, denn der Vorsitzende habe verfügt, daß alle Ressourcen in den Dienst des Sozialismus zu stellen seien. Dann hat sie uns beschrieben, welche bewährten Methoden es gab, um Spatzen zu töten.«
    Shan sah den Oberst traurig an. Er konnte sich aus seiner eigenen Jugend noch gut an andere Kinder entsinnen, die mit revolutionärer Hingabe Tauben und Seemöwen gesteinigt oder voller Stolz Mäusekadaver zur Schau gestellt hatten.
    »Also haben wir die Spatzen getötet«, fuhr Lin fort. »Wenn es schneite, sind wir weit über unseren Block hinaus durch die Straßen gezogen, nur um Spatzen zu finden und zu töten. Eines Tages habe ich meinen Vater mit einem lebenden Vogel in der Tasche überrascht und es dem Blockwart erzählt. Ich dachte, ich würde meinem Vater damit bloß einen Streich spielen, aber als ich an dem Nachmittag nach Hause kam, fand bei uns eine Sitzung statt. Ein tamzing. Mein Vater saß in der Mitte. Er hatte Striemen im Gesicht und ein Schild am Hemd, auf dem >Reaktionäres Schwein< stand. Man ließ nicht locker, bis mein Vater den Vogel vor all den Leuten getötet hatte. Er hat dabei geweint. Es war das einzige Mal, daß ich meinen Vater weinen gesehen habe.«
    Sie schwiegen ein paar Momente.
    »Warum?« sagte Lin und sah zutiefst verwirrt auf seine Hände. »Wie konnte ich das nur völlig vergessen?«
    Er warf Shan einen verlegenen Blick zu, als habe er diesen Gedanken nicht laut aussprechen wollen, und schaute dann zu Anya. »Sie will noch ein tonde suchen«, sagte der Oberst. »Sie hat erzählt, daß alte Schreine manchmal gute tonde anlocken. Sie sagt, ich brauche eins, um die Felsen von meinem Kopf fernzuhalten.«
    Er klang ganz sachlich, als sei er hundertprozentig von der Wirkung der tonde überzeugt.
    Lin sah Shan an und runzelte die Stirn. »Ich habe immer noch meine Befehle«, sagte er, als wolle er etwas klarstellen. »Niemand darf gegen die Regierung handeln.«
    »Pflichten«, räumte Shan mit einem kleinen Nicken ein, ohne dabei Anya aus den Augen zu lassen.
    Aus Richtung der Straße nach Yapchi hallte das Geräusch schwerer Maschinen das schmale Tal hinauf.
    »Auf dem Weg hierher ist etwas Seltsames passiert«, erzählte Lin. »Wir haben einen dieser Pfeifhasen gesehen. Er lief vor uns weg und blieb dann in zehn Metern Entfernung stehen. Anya hat sich hingesetzt und ein Lied angestimmt. Sie sagte, setz dich, Aku Lin.«
    Der Oberst runzelte abermals die Stirn, als würde ihm sein eigener vertraulicher Tonfall widerstreben. »Sie hat dieses Lied auf

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