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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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eine Weise gesungen, wie ich es noch nie erlebt habe. Es war auf tibetisch, und ich konnte es nicht verstehen, aber die Worte waren nicht wichtig. Es war, als ob. wie soll ich sagen? Als ob dort ein Tier singen würde. Und dieser Pfeifhase ist zu ihr gelaufen und hat sich auf ihren Schoß gesetzt. Sie hat meine Hand genommen und auf den Hasen gelegt. Ich konnte sein Atmen fühlen, so wie bei den Spatzen, als ich noch ein Junge war.«
    Er blickte zu Shan. »Dummes Zeug«, sagte er barsch. »Etwas für Kinder.«
    »Ein Götterlied«, sagte Shan. »Anya nennt sie Götterlieder.«
    Das Motorengeräusch wurde lauter. »Ein Panzer«, sagte Lin müde. »Und zwei oder drei Lastwagen. Sie kommen hierher.«
    Shan sah ihn an. Wollte der Oberst ihn warnen, damit er und Nyma rechzeitig fliehen konnten?
    Anya hatte unterdessen ein Loch gegraben. Sie richtete sich auf und winkte ihnen zu. Shan und Lin winkten beide zurück.
    »Sie und ich«, sagte Lin stockend, »wir sind ungefähr im gleichen Alter, glaube ich.«
    Er seufzte. »Ich habe einen Brief, den meine Mutter kurz vor ihrem Tod geschrieben hat. Sie sagte, zwei Generationen seien verloren, aber die nächste würde bereit sein, die nächste würde Gelegenheit haben, alles hinter sich zu lassen und einen neuen Weg zu finden.«
    Shan starrte den Mann an. Das waren nicht die Worte eines Armeeobersts. Er sagte, daß die Partei und die Politiker durch ihren Aufruhr dafür gesorgt hatten, daß Männer wie Shan und er selbst sowie ihre Eltern schreckliche Dinge erleiden mußten. Anya hingegen zählte zu einer neuen Generation.
    »Ein guter Arzt könnte das Bein richten. Ich habe versprochen, sie in ein oder zwei Wochen in dem Umsiedlungslager zu besuchen. Ich habe noch Urlaub übrig. Ich werde sie in ein gutes Krankenhaus bringen.«
    Lin sprach hastig, als fürchte er, die Worte ansonsten gar nicht über die Lippen zu bekommen. Mit merkwürdigem Gefühl begriff Shan, daß Lin niemanden hatte, mit dem er reden konnte, und ihn aus irgendeinem Grund als Vertrauten ansah. »Wenn sie möchte, besorge ich ihr eine richtige Schule. Es gibt mittlerweile Privatschulen. Ich könnte das bezahlen.«
    Lin wandte sich um. Keine drei Meter entfernt standen zwei Personen hinter ihnen. Winslow und Tenzin, der seinen Dungsack über der Schulter trug. Lin warf Shan einen wütenden Blick zu, als sei er von ihm betrogen worden.
    »Bitte«, sagte Shan zu den beiden. »Haltet euch im Hintergrund. Es sind vielleicht Soldaten hierher unterwegs.«
    »Tenzin möchte ein Angebot machen«, verkündete Winslow, während auch Nyma sich zu ihnen gesellte und ins Gras kniete. »Es geht um die Papiere, die der Oberst sucht. Tenzin möchte sie zurückgeben.«
    Tenzin stellte den Dungsack ab, kniete nieder, ließ sich von Winslow ein Taschenmesser geben und durchtrennte die Naht am oberen Ende des Sacks. Dann riß er die zwei dicken Lagen Leder auseinander, griff hinein und holte ein schmales Bündel Papier hervor, das aus etwa zehn Seiten bestand.
    Lin starrte die Blätter an.
    »Es ist der Bericht über eine Katastrophe«, sagte Tenzin zu Lin, als müsse er es dem Oberst ins Gedächtnis rufen. »Eine Einheit der 54. Gebirgsjägerbrigade war in einem Berg an der indischen Grenze stationiert, einer geheimen Befehlszentrale, die sich noch im Bau befand. Der Berg ist eingestürzt. Niemand konnte sich retten, und es gingen Computer und Überwachungsgeräte im Wert von mehreren Millionen Dollar verloren. Vierzig Soldaten kamen ums Leben, genau wie die tibetischen Arbeiter, die man gezwungen hatte, den Berg auszuhöhlen. Dieser letzte Punkt ist überaus heikel. Hier steht, es seien alle Arbeiter gestorben. Allerdings hat ein alter Mönch noch einige Stunden gelebt. Er lachte sehr viel, und man glaubte zunächst, er habe Wahnvorstellungen. Er behauptete, die Gefangenen hätten es getan. Indem sie allmählich die Stützpfeiler schwächten, sei es ihnen gelungen, eine Eliteeinheit der Armee zu vernichten. Keiner von ihnen würde bereuen, die Viererwahl getroffen zu haben, denn es sei das Richtige gewesen.«
    Die Viererwahl. Dieser Begriff aus dem Gulag bezeich- nete die Sünde des Selbstmords, auf den zwangsläufig eine Inkarnation als niedere Lebensform folgte, ein Dasein auf vier Beinen.
    Winslow streckte die Hand aus, und Tenzin gab ihm den Bericht. Shan starrte die Seiten an.
    »Alte Mönche haben den fortschrittlichsten Horchpos- ten der Armee zerstört. So lautet also das Geheimnis, das niemand erfahren sollte.«
    Der

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