Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
Amerikaner musterte erstaunt die Papiere. »Nehmen Sie den Bericht, Oberst, und geben Sie uns den Lama.«
    Lin schien ihn nicht gehört zu haben. Sein Blick richtete sich wieder auf Anya. Einen Moment lang sah es so aus, als wolle er das Mädchen um Rat fragen.
    »Den Bericht im Austausch für den Lama«, drängte Winslow.
    Als Lin nichts erwiderte, stand Tenzin auf. »Nicht nur den Bericht«, sagte er zu dem Oberst. »Falls Sie wollen, können Sie außerdem den Abt von Sangchi haben. Aber lassen Sie Jokar frei.«
    Winslow stieß einen leisen Fluch aus und legte Tenzin eine Hand auf den Arm, als wolle er ihn wegziehen. Nyma stöhnte auf und umklammerte Tenzins Bein.
    Lin wandte sich langsam wieder zu Tenzin um. Er schien etwas sagen zu wollen, als Anya plötzlich laut rief und den Arm schwenkte. Sie hielt etwas in der Hand. Lin beugte sich neugierig vor. Anya kletterte auf den alten chorten , als wolle sie nach den Fahrzeugen Ausschau halten.
    Jenseits des Schreins sah Shan in einiger Entfernung eine Marschkolonne Soldaten den Berg heraufkommen. Auf einmal zischte etwas heulend durch die Luft, und ein Stück über ihnen explodierte der Hang. Erschrocken drehte Shan sich um. Hatte Somo dort gestanden? Nein, sie dürfte inzwischen den Berggrat überquert haben. Vielleicht wollte der Panzer auch nur durch einen Warnschuß dafür sorgen, daß niemand sich der Delegation näherte, die bald eintreffen mußte. Oder hatten die Soldaten etwa von der Versammlung auf der hohen Lichtung erfahren, wo die Tibeter darauf warteten, daß der alte Lama ihren Widerstandskampf anführen würde?
    Anya hatte sich aufgerichtet und betrachtete verwirrt das rauchende Stück Erde.
    »Verdammter Narr«, murmelte Lin und erhob sich langsam, als heulend die nächste Granate heranflog.
    Dieses Geschoß war jedoch nicht auf den Kamm gezielt, sondern auf den chorten. Es gab eine donnernde Explosion, und der Schrein existierte nicht mehr.
    Nyma schrie und rannte auf die Trümmer zu.
    »Neiiin!« stöhnte Lin und schlug eine Hand vor die Brust, als sei er von einer Kugel getroffen worden. »Neiiin!« wiederholte er voller Qual. Er stand auf, torkelte einen Schritt vor und fiel auf die Knie.
    Shan starrte entsetzt auf die qualmende Ruine und half Lin auf die Beine. Das Gesicht des Obersts hatte sämtliche Farbe verloren. Er hieb ziellos mit der Faust nach Shan und stolperte den Hang hinunter. »Anya!« rief er. »Anya, komm her! Xiao Anya, hast du dir weh getan?«
    Shan folgte ihm mit bleischweren Schritten. Sein Herz war ein eisiger Klumpen.
    Nyma erreichte die kleine reglose Gestalt, die dort zwischen den Frühlingsblumen lag, als erste. Sie schien es nicht mal zu bemerken, daß Lin sie wegstieß und neben Anya niederkniete. Sie blutet ja kaum, versuchte Shan sich Mut zu machen, aber dann sah er den Gesteinssplitter aus ihrem Nacken ragen. Das Mädchen hatte die Augen vor lauter Überraschung weit aufgerissen, aber starrte ins Leere. Sie mußte sofort tot gewesen sein.
    »Xiao Anya«, sagte Lin zaghaft und streichelte ihre Wange. »Xiao Anya«, wiederholte er immer und immer wieder. In ihrer Hand, die beinahe zur Faust geballt war, hielt sie ein Stück grünen Stein umklammert, ein tonde für Onkel Lin.
    Die Soldaten kamen näher und blieben in dreißig Metern Entfernung stehen, als sie ihren Oberst erkannten. Einer rief aufgeregt etwas und lief zurück zu dem Panzer, der unterhalb des Hangs aufgetaucht war. Lin schien die Männer nicht zu registrieren. Er hob Anyas Schultern an und drückte ihre leblose Wange einen Moment lang an sein Gesicht. Die Wunde blutete jetzt. Lins Blick fiel auf den grünen Stein in Anyas schlaffen Fingern, und er umschloß beides mit der eigenen Hand. Dann schien ihm der Atem zu stocken, und er brach zusammen, vergrub den Kopf an ihrer Schulter und stieß ein langgezogenes, markerschütterndes Schluchzen aus.
    Niemand regte sich. Niemand sprach. Langsam und mühselig richtete Lin sich zu voller Größe auf und trug das tote Mädchen mit versteinerter Miene zu seinen Männern.

Kapitel 18
    Wer wird sprechen, wenn der Singvogel weg ist? Wer wird sprechen? Die Worte des Orakels hallten durch Shans vom Schmerz betäubten Verstand, bis ihm klar wurde, daß Nyma sie laut aussprach.
    »Hat sie es gewußt?« fragte Nyma wieder und wieder, packte Shan dann am Arm und brach in Tränen aus. »Heiliger Buddha, sie hat es gewußt. Unsere kleine Anya wußte, daß dies geschehen würde.«
    Sie wollte den zertrümmerten Schrein auf

Weitere Kostenlose Bücher