Das tibetische Orakel
kommen schien und unterwegs Hilfe benötigen würde. »Schon morgen wird hier alles von Soldaten wimmeln.«
Die Flüchtlinge musterten Shan auf seltsame Weise, als habe er irgend etwas mißverstanden, doch dann verließen sie mit ängstlichen Mienen die Höhle. »Zum Stuhl des Siddhi«, rief ein junger rongpa stolz und trotzig. Shan erschrak. Sie wollten zu der hohen Lichtung, wo die anderen Bauern und Hirten sich versammelten und voller Vertrauen darauf warteten, daß der alte Lama irgendwie entkommen und sie in ein neues Zeitalter führen würde.
Schließlich waren nur noch wenige Dorfbewohner übrig. Sie wollten Lokesh und Dzopa hinaustragen, aber als sie den großen Mann auf eine Decke hoben, protestierte er lautstark und stieß seine Nichte von sich.
»Rinpoche!« rief er gequält.
Zögernd machte Shan einen Schritt auf den Mann zu. Dzopa blinzelte hektisch und riß dann die Augen auf, als müsse er unbedingt bei Bewußtsein bleiben. Bei der Beschießung des kleinen Dorfes hatte er eine tiefe Schnittwunde am Arm sowie eine Gehirnerschütterung erlitten. Es sei eine Infektion hinzugekommen, hatte Chemi erzählt, und das hohe Fieber habe ihn phantasieren lassen. Shan hatte Mitleid mit diesem Mann verspürt, der aus der Freiheit in Indien zurückgekehrt war und sogleich die Zerstörung seines Dorfes miterleben mußte. Nun schien ihn abermals der Fieberwahn befallen zu haben. Er rief nach einem Lehrmeister, der in Indien zurückgeblieben war.
Chemi redete hastig auf ihn ein, wollte ihn trösten und reichte ihm eine Schale Tee. Der Mann starrte seine Nichte an, als würde er sie nicht erkennen, und trank den Tee mit einem Mal aus. Mit zitternden Fingern griff er nach dem Topf tsampa , der am Boden stand, und fing an, sich die Nahrung in den Mund zu stopfen.
»Ich muß Rinpoche finden«, sagte Dzopa zwischen zwei Bissen.
»Wir bringen dich heute nach unten zur Straße«, sagte Chemi unschlüssig.
Der Mann zögerte und sah sie aus großen, tiefen Augen an. »Er hat mich genesen lassen, Nichte, an Körper und Geist. Er weiß, wie man Wunder bewirkt.«
Dann schaute er sich nervös in der Höhle um. »Wo ist Rinpoche?«
Shan ging zu ihm. »Jokar ist unten«, sagte er langsam. »In Yapchi.«
»Jokar?« fragte Nyma. »Aber dieser Mann.«
Dzopa starrte Shan grimmig an. Sein Blick war nun vollständig klar. »Jokar Rinpoche ist im Tal von Yapchi?«
Seine Stimme klang stark und wütend. Er seufzte, als Shan nickte. »Er hat immer gesagt, die Dinge in Yapchi seien noch nicht abgeschlossen. Eines Tages würde es dort erneut zu großen Zerstörungen kommen, und erst dann sei alles bereinigt.«
Nachdenklich betrachtete er die riesigen Stiefel, die neben seinem Lager standen. Dann griff er langsam danach und streifte sie sich über die Füße.
»Wie lange?« fragte er Chemi. »Wie lange war ich nicht bei mir?«
»Eine Woche.«
Sein Gesicht schien in sich zusammenzufallen. »Die kleinen blauen Blumen mit den grauen Blättern, die entlang der südlichen Klippen wachsen. Blühen sie schon?« fragte er seine Nichte und wirkte dabei plötzlich klein und furchtsam.
Chemi sah ihren Onkel verwirrt an. Lokesh hingegen griff in die Tasche und holte daraus einen winzigen grauen Stengel mit blauer Blüte hervor.
Voller Schmerz betrachtete der große Mann die Blume und schien gleich in Tränen ausbrechen zu wollen. Dann seufzte er und ließ den Blick über die Gesichter der Anwesenden schweifen. »Er ist doch bestimmt mit jemandem aus dem Dorf losgezogen«, sagte er und nahm verkniffen Lhandro in Augenschein. »Bist du nicht Lepkas Junge? Ist er mit Lepka gegangen?«
Er nickte und beantwortete sich die Frage selbst. »Natürlich ist er mit Lepka gegangen.«
Chemi kniete nieder und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du kannst nicht zu Rinpoche gehen. Die Soldaten haben ihn verhaftet.«
Dzopas Gesicht erstarrte. Einen Moment lang schien sein Blick sich wieder zu verklären. Herausfordernd, fast bedrohlich sah er sich dann in der Kammer um und musterte schließlich die Rückwand, als könne er hindurchblicken und würde in weiter Ferne nach Jokar Ausschau halten. Er griff nach der Kohlenpfanne, die neben ihm stand, und tauchte die Finger ein. Dann fing er an, sich die Wangen mit Asche zu schwärzen.
Das merkwürdige Verhalten des Mannes war beängstigend. Shan ging ein Stück auf ihn zu, um dem offenbar Fieberkranken zurück zum Bett zu helfen, doch der rongpa am Eingang rief unvermittelt eine Warnung. Zwei Männer mit
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