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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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verschlissenen Rucksack auf und marschierte aus der Höhle. Seine Miene glich der eines wilden Tiers.
    »Mein Onkel.«, murmelte Chemi mit einer seltsamen Mischung aus Angst, Ehrfurcht und sogar Zuneigung, während sie zum Eingang blickte. »Ich wußte nicht, daß er. Ich dachte, er könne sich nicht mal auf den Beinen halten.«
    Vielleicht konnte er das auch nicht, dachte Shan, zumindest solange nicht, bis er hörte, daß Jokar verhaftet worden war. Seit seiner Ankunft am Berg Yapchi sah Shan immer deutlicher, daß es viele Arten der Heilung gab.
    »Ich habe ein paar alte Geschichten gehört, daß auch Männer aus unserer Familie früher als dobdobs gedient haben«, sagte Chemi noch immer verwundert. »Aber das alles liegt schon ewig zurück, noch vor der Zerstörung von Rapjung. Dzopa stand damals immer in seinem Gerstenfeld und hat von Rapjung erzählt, aber nie von. Ich habe es nicht gewußt. Dzopa war nicht dabei, als das Kloster zerstört wurde. Er war in unser Dorf gekommen, um meinem kranken Vater zu helfen, und ist nie dorthin zurückgekehrt.«
    »Er hat Rinpoche gefunden«, sagte Lokesh genauso ehrfürchtig. »In Indien hat er den letzten Lama von Rapjung gefunden.«
    Shan nickte. »Sie sind den langen Weg gemeinsam hergekommen, und Dzopa hat ihn beschützt.«
    Er erinnerte sich an die Warnung des Mannes, man würde alle Lamas verbrennen. Dzopa hatte Padme bei dem Versuch überrascht, die Ebene der Blumen anzuzünden. Und er hatte vermutlich die schwelenden Ruinen in Rapjung gesehen. »Warum war für ihn so wichtig, wie lange Jokar schon hier ist? Und was ist an diesem Berg so besonders?«
    Chemi starrte gedankenverloren zu der Bettstatt, auf der ihr Onkel gelegen hatte. »In den Geschichten heißt es, damals sei aus den Dörfern rund um Yapchi jeweils der älteste Sohn einer Familie Mönchspolizist geworden. Verteidiger der Tugenden hat mein Vater sie immer genannt. Er sagte, es sei ein Versprechen, das wir Rapjung vor hundert Jahren gegeben hätten.«
    Shan sah die Frau und dann Lokesh an. Der alte Tibeter erwiderte den Blick. Es klang fast so, als hätten die Lamas von Rapjung den Familien eine Buße auferlegt. Doch vor hundert Jahren waren diese Familien im Tal von Yapchi Opfer eines Massakers geworden.
    »Drakte«, flüsterte Lokesh.
    Der dobdob war in jener Nacht nicht gekommen, um Drakte zu töten, sondern um seine übliche Aufgabe zu erfüllen und den letzten noch lebenden Lama von Rapjung zu schützen. Aus irgendeinem Grund hatte Dzopa in Drakte eine Bedrohung gesehen. Shan mußte an den dunklen Bluterguß an Jokars Hals denken. Drakte hatte eine Schleuder bei sich getragen. Es schien undenkbar, daß der purba den Lama angreifen würde, doch die dropkas , bei denen Jokar übernachten wollte, hatten von einem Angriff auf den alten Mann berichtet.
    »Es muß ein schreckliches Mißverständnis gewesen sein«, sagte Somo, als sei ihr der gleiche Gedanke gekommen. Ihre Stimme zitterte. »Jokar und Dzopa wurden verfolgt, und die Kriecher behandelten den Lama wie einen Verbrecher.«
    Sie sah Chemi an. »Dzopa hat ihn nicht getötet«, sagte sie wie zum Trost.
    »Er wird gegen die Soldaten kämpfen«, sagte Chemi verzweifelt. »Er ist der letzte noch lebende Mann aus meiner Familie.«
    Shan hockte sich neben die bewußtlosen Diebe und schüttete den kleinen Beutel aus. Die beraubten Tibeter nahmen schnell ihre Habseligkeiten an sich, und Shan betrachtete, was übrig blieb: mehrere Silberketten und anderer Schmuck. Er hob einen kleinen Lederbeutel mit langem Fellriemen auf, der ihm bekannt vorkam, musterte ihn einen Moment und durchsuchte die Beute, bis er einen Silberarmreif mit Lapislazuli und ein teures Taschenmesser mit eingeklapptem Löffel fand. Er blickte kurz zu Somo, die wieder bei Lokesh kniete, stand auf und holte seinen eigenen Schnürbeutel. Die drei gefundenen Gegenstände nahm er mit.
    »Lokesh kommt mit dem Gips nur langsam voran«, sagte er zu Chemi, aber mit Blick auf seinen alten Freund. »Meidet die steilen Hänge. Und achte darauf, daß er heute nicht anhält, um nach tonde zu suchen. Bring ihn in Sicherheit.«
    Ich werde ihn finden, hätte Shan beinahe hinzugefügt, doch er wußte, daß er das Tal wahrscheinlich nicht mehr verlassen würde, höchstens in Ketten.
    »Sie können nicht gehen«, widersprach Somo.
    Shan schaute mit traurigem Lächeln noch einmal zu Lokesh. »Es muß eine Gottheit erneuert werden.«
    Chemi trat zu dem alten Tibeter und kniete sich neben ihn, wie um Shan zu

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