Das tibetische Orakel
Gewehren stürmten herein. Einer von ihnen stieß dem Türposten den Kolben der Waffe in den Leib, so daß er keuchend zusammenbrach. Dzopa stöhnte auf und kroch auf die Schatten im Hintergrund der Höhle zu. Somo duckte sich, als wolle sie angreifen, aber einer der Männer zielte mit dem Gewehr auf sie und tippte sich mit der anderen Hand lässig grüßend an die Fellmütze. Sein Begleiter, der ein weites Lederwams und einen schwarzen Filzhut trug, lehnte die Waffe an den Tisch und fing an, alles dort zu durchwühlen.
Es waren weder Soldaten noch purbas , erkannte Shan. Zhu, der Direktor für Sonderprojekte, konnte in den Bergen durchaus noch über andere Leute verfügen. Der Mann mit der Waffe im Anschlag trieb alle vor der Höhlenwand zusammen, und sogar Lokesh mußte aufstehen. Sein Begleiter warf derweil die Gegenstände, die auf dem Tisch lagen, in einen Schnürbeutel. Eine Schachtel Zigaretten, eine Blechtasse, Teebeutel, ein Lineal, Bleistifte. Die Männer waren nicht daran interessiert, jemanden zu verhaften oder Fragen zu stellen.
»Golok!« rief einer der rongpas verächtlich. Der Mann mit der Mütze lächelte und enthüllte dabei eine schiefe Reihe brauner Zähne. Die Eindringlinge waren Diebe.
Der Mann am Tisch war schnell fertig. Er wandte sich den Gefangenen zu und nahm den Hut vom kahlen Schädel. Seine Augen funkelten, während er sich mit einem Finger langsam über den schmalen Schnurrbart strich. Sein Blick fiel auf den Metallkocher, den Larkin zurückgelassen hatte. Er setzte seinen Rucksack ab und suchte darin herum, bis er einen ähnlichen, aber kleineren Kocher gefunden hatte, an dem eine blaue Gaspatrone befestigt war. Dann stellte er beide Exemplare auf den Tisch, schraubte die Patrone ab und an Larkins Kocher wieder fest. Als der Mann die beiden Kocher in seinen Rucksack stopfte, begriff Shan, daß er das kleinere der zwei Geräte zuvor schon gesehen hatte. Er und Winslow sahen sich kurz an. Auch der Amerikaner hatte den Kocher wiedererkannt.
Der Mann mit dem Schnurrbart befahl ihnen, sich in einer Reihe aufzustellen, und fing an, sie zu durchsuchen. Armbänder, Halsketten und sogar Gebetsamulette landeten in einem kleinen Beutel, den er am Gürtel trug. Als Nyma mit beiden Händen ihr gau umklammerte und sich weigerte, es herzugeben, trat der zweite Mann vor und griff nach seinem Messer.
»Geh zur Hölle«, knurrte Winslow und stellte sich schützend vor Nyma.
»Nein!« dröhnte eine Stimme hinter den beiden Männern, als die Klinge aus der Scheide glitt. Die goloks wirbelten herum und starrten in die tiefe Finsternis.
Shan erschrak. Das mußte Dzopa im Fieberwahn sein. Er würde die Diebe nur verärgern und dafür bestraft werden. In seinem geschwächten Zustand konnte jede weitere Verletzung ihn umbringen.
Der golok mit dem Gewehr hob die Mündung der Waffe.
»Das ist nur mein.«, setzte Chemi an, doch ihre Worte gingen in einem erstickten Keuchen unter, weil ein wutentbranntes Geschöpf aus der Dunkelheit vorsprang. Es war ein riesiger Mann, der ein graues Gewand über den bärengleichen Schultern trug. Seine Wangen waren geschwärzt, seine Augen entflammt. In den Händen hielt er einen dicken Stab, eine der Stangen, an denen die purbas ihre Lasten trugen.
»Ai yi!« rief Lokesh und wich an die Wand zurück, genau wie mehrere der rongpas.
Auch Shan wäre am liebsten geflohen. Sie hatten diesen Mann schon einmal gesehen - in der Nacht von Draktes Tod. Der dobdob war zurückgekehrt.
Die goloks starrten ihn nur verblüfft an. Unwillkürlich senkten sich die Spitzen ihrer Waffen. Diesen Moment nutzte der dobdob zum Angriff. Sein Stab wirbelte durch die Luft, schlug mit Wucht gegen den Schädel des kahlen golok und einen Augenblick später auf den Kopf seines Gefährten. Die beiden Männer sackten zusammen und blieben bewußtlos am Boden liegen.
Mit nun etwas sanftmütigerem Blick hielt der dobdob nach Chemi Ausschau. »Rinpoche vergißt bisweilen, daß er sterblich ist«, sagte er zu seiner Nichte, als sei dies eine wichtige Erklärung. Seine Stimme grollte wie leiser Donner.
»Du bist bei ihm in Indien gewesen«, stellte Shan stockend fest und sah dann Chemi an. Ihr Onkel war der dobdob , und der dobdob war der Begleiter und Beschützer des Lama-Heilers. »Und du bist mit ihm aus Indien hergekommen.«
Der Mann schien Shan gar nicht zu hören und antwortete nicht. Er wog den neuen Stab in der Hand, als müsse er sich erst wieder an dieses Gefühl gewöhnen, hob seinen
Weitere Kostenlose Bücher