Das tibetische Orakel
keinen Fall verlassen. Nyma setzte sich mitten zwischen die Blumen, auf denen Anya gelegen hatte, wischte sich die Tränen weg und stimmte ein Mantra an. Sie schien gar nicht zu bemerken, daß die Soldaten sich um sie versammelten und die Stelle anstarrten, wo das Blut des Mädchens die Blüten befleckt hatte.
Shan war noch immer starr vor Kummer und sah, daß die Männer die Trümmer absuchten, als hielten sie nach weiteren Opfern Ausschau. Mehrere zögerten, blickten auf die gepeinigte Frau oder den Hang hinunter zu ihrem Oberst, der das tote Mädchen, dessen Blut mittlerweile über seine Arme und Beine lief, nicht aus den Händen geben wollte. Ein Soldat erkannte anscheinend Shan wieder und blieb in seiner Nähe, als warte er nur auf den Befehl, ihn zu den Lastwagen zu zerren.
Wer wird sprechen, wenn der Singvogel weg ist? hörte Shan erneut.
Dann ertönte ein schriller Pfiff, und die Soldaten verschwanden einfach, liefen den Hang hinunter, während erst der Panzer und dann die Transporter sich in einer Staubwolke zurückzogen.
»Es ist hier womöglich nicht sicher«, sagte Shan flehentlich zu Nyma. »Ich kann dich wenigstens zu einer der Höhlen bringen.«
Doch sie ließ durch nichts erkennen, ob sie ihn gehört hatte. Ihr rannen wieder Tränen über die Wangen, und ihre Anrufung des Mitfühlenden Buddhas wurde lauter. »Es spielt keine Rolle«, sagte sie schließlich mit zitternder Stimme. »Begreifst du es denn nicht? Den Tibetern bleibt keine Hoffnung mehr. Das hier geschieht mit denen, die es trotzdem wagen. Wir sind ganz allein.«
»Ich muß nach Yapchi gehen«, sagte Shan. Er wiederholte es, und als Nyma abermals nicht reagierte, wandte er sich ab und machte sich auf den Weg ins Tal. Auch er fühlte sich nun furchtbar allein und bedauerte auf einmal zutiefst, daß er Lokesh zurückgelassen hatte. Tenzin und Winslow waren geflohen. Vielleicht würden sie sich zu Lokesh durchschlagen und ihn beschützen. Er redete es sich immer wieder ein, bis er schließlich stehenblieb und sich mit wackligen Knien auf einen Felsen sinken ließ. Niemand war hier in Sicherheit. Die Armee durchstreifte die Berge und schoß auf Tibeter. Die herzensgute Anya, die mit den Lämmern sprach, war tot, weil sie nach einem Schutzzauber für den Anführer jener Männer gesucht hatte, durch deren Hände sie ums Leben kam.
Shan überquerte den Berggrat an einer Stelle zwischen Bohrturm und Dorf. Er stieß auf einen Wildpfad und stieg ins Tal hinab. Fünf Minuten später hörte er eine laute Stimme und verbarg sich hinter einem Felsen.
Gyalo sprach mit Jampa, während er auf einem Pfad zügig ins Tal wanderte. Hinter ihm folgte ein Trupp grimmiger Tibeter. Beinahe wie Soldaten, dachte Shan erschrocken, dann bemerkte er allerdings, daß sie keine Gewehre, sondern Schaufeln, Äxte und Spitzhacken auf den Schultern trugen. Es waren mindestens vierzig Männer und Frauen, von denen er manche noch am Vorabend als Flüchtlinge in der Höhle gesehen hatte. Einige sangen Lieder, und vereinzelt sah Shan grüne Schutzhelme, als sei es Gyalo gelungen, Arbeiter des Projekts zur Flucht zu bewegen. Allerdings kehrten sie nun ins Tal zurück.
Unter Umständen handelte es sich doch in gewisser Weise um Soldaten, erkannte Shan traurig. Er kam aus seinem Versteck zum Vorschein, und der Mönch begrüßte ihn mit einem herzlichen Lächeln. »Da unten ist immer noch die Armee«, warnte Shan.
Gyalo lächelte einfach weiter. Er blieb mit Jampa bei Shan stehen und bedeutete den anderen Tibetern, sie sollten weitergehen.
»Bitte«, flehte Shan, »es hat genug Leid gegeben.«
Er schilderte, was Anya zugestoßen war.
Der geächtete Mönch schloß kurz die Augen, sah dann Shan an und nickte ernst. »Das Orakel hat davon gesprochen.«
Der große Yak, der Shan eindringlich gemustert hatte, stieß ein lautes Seufzen aus und schaute in die Ferne. Gyalo befingerte die leuchtenden Perlen an einem der Fellzöpfe, die Anya in Norbu geflochten hatte.
»Selbst wenn es möglich wäre, den Bohrturm zu untergraben«, sagte Shan, weil er vermutete, daß darin der Plan der Gruppe bestand, »wird man euch niemals nahe genug heranlassen.«
Gyalo ging zu einem Vorsprung, von dem aus man den südlichen Ausgang des Tals überschauen konnte, und streckte den Arm aus. Shan schirmte mit einer Hand seine Augen ab und sah zu der bezeichneten Stelle, die sich etwa sechzig Meter von dem Ort entfernt befand, an dem der bemalte Felsen gelegen hatte. Er holte sein Fernglas hervor.
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