Das tibetische Orakel
genauer in Augenschein. Auf einmal duckte sie sich und lief zum Rand des Felsüberhangs. Der golok rülpste in ihre Richtung und prostete ihr mit der Flasche zu.
Kurz darauf kehrte Nyma in die Höhle zurück. »Sie haben sich nicht vom Fleck gerührt«, verkündete sie. »Das ist gut, oder?«
Als niemand etwas erwiderte, setzte sie ihre Geschichte fort. »Dieses Dorf - oder vielmehr das Tal, in dem das Dorf lag war die Heimat der Yapchi-Gottheit. Jahrhundertelang hatte sie dort in einer natürlichen Statue gelebt, einem Felsen, der wie ein sitzender Buddha geformt war.
Irgendwann in grauer Vorzeit hatte man zwei Augen darauf gemalt, damit sie die Welt besser sehen konnte und damit die Bewohner des Tals nicht vergaßen, daß ihr nichts entging.«
»Und die Soldaten haben die Statue mitgenommen?« fragte Shan.
»Nicht direkt«, antwortete Nyma bekümmert. »Die tibetischen Soldaten sind alle durch das Sperrfeuer umgekommen, denn sie waren zu schwach, um zu fliehen. Die überlebenden Dorfbewohner rannten zu der Gottheit in der Mitte des Tals. Es waren ungefähr fünfzig, hauptsächlich Frauen, Kinder und alte Männer. Der chinesische Offizier der Lujuns lachte und rief, sie sollten sich ergeben. Falls sie bereit seien, als Gepäckträger zu dienen und die Ausrüstung seiner Leute bis zur chinesischen Grenze zu schleppen, würde er sie am Leben lassen. Als sie sich weigerten, schickte er zehn Soldaten mit Schwertern in die Menge. Sie schlachteten die Menschen wie Ziegen ab, hackten sie in Stücke und lachten dabei, als wäre es ein großer Spaß. Aus der Familie des tibetischen Befehlshabers blieb kein einziger am Leben.«
Plötzlich drehte sie sich um und starrte in die Dunkelheit im hinteren Teil der Kammer, als fühle sie sich aus dem Innern des Berges beobachtet. »Nur die wenigen, die sich zufällig nicht im Dorf aufhielten, entgingen dem Tod. Eine Karawane aus dem Ort war zu dem heiligen See gezogen. Und oben auf den Hängen befand sich ein Mädchen mit Schafen und sah alles mit an. Als sie versuchte, die Toten zu erreichen, wurde sie von den Soldaten bemerkt. Der Offizier ließ sie dabei zusehen, wie er die Gottheit mit einem Hammer in winzige Stücke zerschlug. Dann nahm er das einzige größere Fragment, das einzelne Auge, das chenyi« , sagte sie und meinte damit das rechte Auge. »Es sei Zeuge der heldenhaften Taten der Lujuns geworden, behauptete er, und er wolle es seinem General als Trophäe überreichen.«
Nymas Stimme erstarb, und ihr Blick wanderte erneut zu der drohenden Wolke. »Man befahl dem Mädchen, unter all den Toten ihre Mutter herauszusuchen, fesselte sie dann von Angesicht zu Angesicht an die Leiche und ließ sie liegen. Drei Tage später wurde sie dort von den Mönchen gefunden, die auf der anderen Seite des Bergs Yapchi in einem gompa lebten.«
Lange Zeit herrschte Schweigen, während Shan erst Nyma und dann die dunkle Wolke musterte.
»Und deine Leute haben die Ereignisse festgehalten«, sagte Lokesh über Shans Schulter hinweg.
»Das kleine Mädchen war meine Großmutter. Sie half, die anderen zu begraben. Bei uns werden die Toten nicht den Vögeln übergeben, sondern zurück in die Erde gelegt. Sie half, alle in einem großen Gemeinschaftsgrab zu bestatten. Als ich ein Kind war, ist sie häufig mit mir dorthin gegangen und hat mir auswendig die Namen der Toten aufgesagt.«
Der golok hatte eigentlich einen weiteren Schluck trinken wollen, als Nyma ihnen dieses Geheimnis verriet. Nun ließ er das Bier sinken und starrte es kurz an. »Diese Schweine«, sagte er, als wolle er die Nonne trösten, und packte die Flasche weg.
»Später haben die Leute sich auf die Suche nach dem chenyi-Stein gemacht«, fügte Nyma hinzu. »Viele Jahrzehnte lang wurde er in einem Armeemuseum bei Peking aufbewahrt. Ein Mann aus Yapchi ließ sich von den Lamas besondere Zauber geben und hat sich auf die Reise gemacht, um das Auge zurückzuholen, doch die Chinesen haben ihn als Spion erschossen. Als die Kommunisten kamen, verschwand der Stein, aber wir konnten herausfinden, daß Teile der Lujuns in die Volksbefreiungsarmee integriert wurden.«
»Als 54. Gebirgsjägerbrigade«, sagte Shan.
Nyma nickte. »Als man diese Brigade nach Tibet verlegte, behielten die Leute sie genau im Auge. Ein weiterer Mann aus dem Dorf ging los, um mit der Armee zu sprechen. Er wurde jedoch verhaftet und ins lao gai geschickt, wo er starb. Eine Sekretärin sah den Stein auf dem Schreibtisch des zuständigen Obersts in Lhasa
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