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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Stein zu schaffen, dessen Moosschicht wie ein heiliges Emblem geformt war, oder einen verwitterten Knochen mitzunehmen, der ihn an eine rituelle Gabe erinnerte.
    Der golok deutete mit seiner Flasche auf den Schatten eines Felsüberhangs in dreißig Metern Entfernung. Nyma seufzte erleichtert auf und lenkte ihr Pferd zu der Öffnung.
    Shan bezweifelte, daß auf dieser Welt noch irgendein anderes Land existierte, in dem es mehr Höhlen gab als in Tibet. Und mit Sicherheit hingen diese Höhlen nirgendwo dermaßen eng mit der Geschichte der Bevölkerung zusammen. Es gab Höhleneinsiedeleien, Höhlenschreine und sogar vollständige Klöster, die nur aus Höhlen bestanden. Guru Rinpoche, der berühmteste der alten Lehrer, hatte vor vielen Jahrhunderten angeblich überall im Land heilige Objekte und Schriften hinterlegt. Auch heute noch hielten die Tibeter nach vergessenen Höhlen Ausschau, in denen sich einige dieser Schätze befinden könnten. Es hieß, daß viele der regionalen Schutzgötter, die über die Täler und Berge wachten, sich jeweils eine Höhle als Heimstatt auserkoren hatten.
    Obwohl der niedrige Eingang ziemlich breit ausfiel, verengte die Höhle sich schnell zu einem kleinen Tunnel. Die Pferde schienen zu begreifen, was von ihnen erwartet wurde, und liefen in den hinteren Teil der Kammer, sobald ihre Reiter abgestiegen waren. Lokesh traf ein und half Tenzin beim Lösen der Sattelgurte, während der golok und Nyma sich auf Felsen beidseits des Zugangs niederließen. Dremu hob seine Flasche und trank geräuschvoll, ohne einem der anderen einen Schluck anzubieten.
    »Ihr habt gewußt, daß die Armee hinter dem Auge her ist«, sagte Shan zu Dremu und Nyma.
    »Ich hab's dir doch gesagt«, entgegnete der golok mit einem breiten Grinsen. Er hatte Shan lediglich gewarnt, er könne auf hunderterlei Weise sterben.
    »Was will die Armee mit einem alten Steinauge?« fragte er Nyma.
    »Auf der nördlichen Changtang wissen fast alle über die Armee und das Auge Bescheid.«
    »Ich nicht. Und was Gendun anbelangt, bin ich mir auch nicht sicher.«
    »Es ist vor langer Zeit geschehen. Im Zuge einer Invasion«, sagte Nyma mit zögernder Stimme.
    »Soll das heißen, der Stein wurde vor fünfzig Jahren als eine Art Trophäe erbeutet?« fragte Shan und bezog sich dabei auf die Besetzung durch die Volksbefreiungsarmee.
    »Nein, nicht während dieser Invasion«, seufzte Nyma.
    Shan registrierte hinter sich eine Bewegung und sah, daß Lokesh an seiner Schulter stand.
    »Es geschah im Jahr der Sumpfhäsin, als die chinesische Armee kam, um den Dreizehnten aus Tibet zu vertreiben«, erklärte Nyma. Sie meinte einen Überfall zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Shan erinnerte sich, daß 1903 Truppen nach Lhasa marschiert waren, um den dreizehnten Dalai Lama abzusetzen, und dabei eine blutige Spur durch Ost- und Nordtibet gezogen hatten.
    »Es sind furchtbare Dinge passiert«, fuhr die Nonne mit zitternder Stimme fort. »Chinesische Soldaten unter dem Befehl eines Generals namens Feng haben gompas niedergerissen und die Mönche lebendig begraben, Hunderte von Mönchen. Feng den Schlächter hat man ihn damals genannt. Nach einigen Jahren konnte die tibetische Armee endlich eine wirksame Verteidigungsstrategie entwickeln und den General zurückdrängen. An der Türkisbrücke in Lhasa kam es zu einem grausamen Gefecht, als die tibetischen Soldaten den Kampfverband Lujun vertrieben. Die Lujuns waren die Eliteeinheiten der chinesischen Armee und wollten sich für die Demütigung rächen, wurden von den Generälen aber in die Heimat beordert, weil die Kaiserwitwe gestorben war und man in Peking mehr Soldaten benötigte, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Truppen marschierten entlang der alten Nordroute - der Changlam. Unterwegs zerstörten sie gompas und töteten alle Mönche und Nonnen, die sie zu fassen bekamen.«
    Nyma hielt kurz inne und betrachtete eine dunkle Wolke, die am Horizont aufgezogen war. »Sie befanden sich auf der Changlam, mehr als dreihundert Kilometer nördlich von Lhasa, als sie erfuhren, daß das Heimatdorf des tibetischen Befehlshabers, dem sie ihre Niederlage zu verdanken hatten, nur dreißig Kilometer westlich lag. Sie marschierten dorthin, und als sie herausfanden, daß die Dorfbewohner sich um verwundete Soldaten kümmerten, legten sie alles mit ihren Geschützen in Schutt und Asche. Nur ein einziges Haus blieb stehen.«
    Die Nonne erhob sich und nahm die schwarze Wolke, die schnell immer näher kam, noch

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