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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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kaum noch Luft bekam und an das Ufer eines Baches torkelte.
    Während er im Wasser kniete, schaute er sich keuchend um. Das ferne Trommeln aus Yapchi klang nun hohl und nicht länger wie ein Zeichen der Hoffnung, sondern eines der Enttäuschung. Kein Gott war gekommen, kein Erbarmen gewährt worden. Shan spritzte sich das eisige Wasser ins Gesicht. Wenn die Soldaten oder Kriecher Jokar bei einer geheimen Verschwörung gegen Peking überraschten, würden sie keine Gnade zeigen.
    »Lokesh!« hörte er jemanden wieder und wieder rufen, bis ihm klar wurde, daß er selbst es war. Ganz gleich, wie dringend er Jokar finden wollte, ein Teil von ihm dachte immer noch verzweifelt an Lokesh, der bald in Richtung Peking loshumpeln würde, wo ihm Tod oder Gefangenschaft bevorstanden.
    Shan kämpfte sich auf die Beine, folgte den Ziegenpfaden und hielt dabei stets nach Wegen Ausschau, die weiter nach oben führten. Eine Stunde verging, dann noch eine, und langsam kam die Gegend ihm bekannt vor. Er hatte weit unterhalb von Larkins Wasserhöhle einen Bogen beschrieben und stieg nun wieder aufwärts, ganz in der Nähe jener Stelle, an der Chemi sie über den Berg nach Qinghai gebracht hatte. Er lief um einen Felsvorsprung herum und erstarrte. Dreißig Meter vor ihm stand ein mächtiger schwarzer drong und blickte ihm mißtrauisch entgegen. Dann jedoch trat Shan einen Schritt vor und sah die roten Bänder im Nackenfell, die er selbst und Anya dort eingeflochten hatten.
    »Jampa«, rief er sanft und ging zu dem Tier. Warum war der Yak hier und zudem allein?
    Erschrocken sah Shan die Krater vor dem drong. Jampas große schwarze Augen schienen sie genau zu studieren, und einen furchtbaren Moment lang glaubte Shan, Gyalo und Jokar seien angegriffen worden. Dann erkannte er alles wieder. Es waren drei Krater in gleichmäßigem Abstand und auf einer geraden Linie. Direkt darüber erhob sich der schneebedeckte Gipfel des Bergs Yapchi. Hier waren sie zum erstenmal Zhu begegnet, und die seismischen Sprengladungen hatten einen Vogelschwarm getötet.
    Shan streichelte den Nacken des Yaks und ließ den Blick über die Landschaft wandern. Die hohe Lichtung, auf der die Tibeter Jokar erwarteten, mußte sich irgendwo in der Nähe befinden. Bestimmt hatte Jampa ihn dort abgeliefert und sich dann ein Stück entfernt. Doch nichts regte sich, kein Geräusch ertönte, keine Rufe der Soldaten, kein Schuß. Nichts als der Wind. Und hoch über dem Grat flogen zwei Gänse nach Süden über den gewaltigen Ausläufer des Berges auf den heiligen Salzsee zu. Shan schaute ihnen hinterher, bis sie verschwunden waren, und ging dann am Rand des Geröllfelds entlang. Am Nordende erhob sich eine spitz zulaufende Felssäule von etwa sechs Metern Höhe, auf deren Sockel man die Umrisse des mani-Mantras erkennen konnte, die letzten Reste einer Schrift, die vor vielen Jahrzehnten dort aufgemalt worden war. Wie ein Wegweiser oder ein Gruß. Als er die alten Buchstaben berührte, mußte Shan an die Lamas von Rapjung denken. Sie waren über den Berg nach Yapchi gekommen, um Kräuter zu sammeln und mit den chinesischen Mönchen zu diskutieren. Das Tal von Yapchi war von Süden schwer zu erreichen, vom Norden aber praktisch vollständig abgeschnitten und daher zu einem Teil von Rapjungs Gemeinde geworden, eine Art Kräutergarten für die Lamas. Und zur Begrüßung der Mönche, die zu ihnen hinabstiegen, hatten die Tibeter hier ein Mantra angebracht. All das war vor hundert Jahren an einem einzigen schrecklichen Tag zu Ende gegangen.
    Shan schritt um die vom Wind abgeschliffene Säule. Es war kaum zu glauben, doch an ihrer schmalen Spitze hing ein rotes Stück Stoff, der letzte Fetzen einer Gebetsfahne. Er lief zurück, hielt immer noch suchend Ausschau und stieg den Hang hinauf, um die Spitze der Säule besser in Augenschein nehmen zu können. Als die Spitze in Sicht kam, konnte er es kaum fassen. Das war keine Gebetsfahne.
    »Gyalo!« rief er. Der Mönch saß im Lotussitz auf der Felssäule und schaute schwermütig zum Himmel empor. Shan lief zurück auf das Geröllfeld und rief noch mehrmals, doch Gyalo ließ durch nichts erkennen, ob er ihn gehört hatte. Jampa schien sich um den Mönch keine Sorgen zu machen, aber irgend etwas ging in ihm vor. Der Yak sah irgendwie bekümmert aus. Shan ging hin, streichelte ihn erneut und versuchte, sich einen Reim auf die Situation zu machen.
    Gyalo und Jampa waren bis hierhin und nicht weiter gekommen. Ihr ursprüngliches Ziel war die

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