Das tibetische Orakel
Langsam schritt Shan die Versammlung weiser alter Männer ab. Einige von ihnen trugen Brokatroben und hatten Goldschalen neben sich stehen, aber die meisten waren wie einfache Mönche gekleidet. Zu Füßen eines der Toten lagen hölzerne Druckstöcke für Lehrschriften.
In der Nähe des Eingangs endete die Reihe, und Shan sah in Jokars Gesicht. Der alte Lama wehrte sich nicht mehr. Er war heimgekehrt. Er hatte erreicht, weswegen er aus Indien aufgebrochen war. Nur darum war es ihm gegangen. Shan empfand auf einmal Trauer und Zuneigung zugleich. Es hatte keine Verschwörung gegeben. Jokar hatte nie vorgehabt, den Widerstand der Tibeter anzuführen. Sein einziger Grund für die Rückkehr war der Wunsch gewesen, ein langes ereignisreiches Leben zum Abschluß zu bringen und seine Gebeine in ehrwürdiger Gesellschaft zu wissen, tief in dem Berg, den sie alle so sehr geliebt hatten.
Auf Jokars Antlitz lag ein heiteres und dermaßen friedliches Lächeln, als würde er nur schlafen. Shan berührte die Hand des Lama, in der die Gebetskette lag. Sie war noch nicht erkaltet, aber die Wärme des Lebens war von ihr gewichen. Die andere Hand ruhte auf dem Bein des Toten neben Jokar, eines Mannes mit kurzem weißem Haar und einer kleinen hölzernen Mischschale auf dem Schoß. Jokar hatte ihn gekannt, genau wie Lokesh. Die Sandelholz-dorje im Vorraum war Shans altem Freund sogleich vertraut vorgekommen. Sie hatte tatsächlich seinem einstigen Lehrer Chigu gehört.
Shan ließ den Blick erneut durch die Grabkammer schweifen. Es war vermutlich erst eine Stunde her, daß Jokar die Kerze auf den Altar gestellt und das Weihrauchstäbchen entzündet hatte. Dann hatte der Lama auf der langen Steinbank neben seinen Gefährten Platz genommen, die mala fest umklammert, mit vertrauter Geste seinen alten Freund begrüßt und war zur letzten Reise aufgebrochen. Im Berg Yapchi lägen Schätze verborgen, hatte Dremu erzählt.
Ehrfürchtig füllte Shan mit dem Rest seines Wasservorrats die Opferschalen auf dem Altar, bis ihm plötzlich der Amerikaner wieder einfiel. Er hielt noch einmal kurz bei Jokar inne, ging einige Schritte rückwärts bis zu dem thangka , stieg nach oben in die Vorkammer und trat ins Halbdunkel hinaus. Winslow war nirgendwo zu sehen.
Hektisch suchte er alles mit der Taschenlampe ab, erst den tiefen Spalt hinter dem Steinsockel, dann draußen den Pfad. Von dem Amerikaner war kein Lebenszeichen zu entdecken. Er mußte sich fortgeschleppt haben, um zu verhindern, daß Shan bei dem Versuch, ihn zu retten, das eigene Leben riskieren würde. Der Pfad war leer, lag aber noch nicht völlig im Dunkeln, so daß man in beide Richtungen etwa hundert Meter weit sehen konnte. Shan ging ein paar Schritte und spähte dann mit der Lampe über den Rand. Dort lag nichts als Schwärze; bis zum Grund des Tals waren es fast dreihundert Meter.
Shan kehrte zu dem Spalt zurück, löschte das Licht und schaute zum Himmel. Über und unter ihm blinkten die ersten Sterne. Ein Wind wehte, und er bemerkte, daß seine Wange plötzlich kalt und feucht wurde. Er wischte sich eine Träne weg, trat in den Spalt und durchsuchte noch einmal jeden Winkel und jede Nische im Fels.
Wenig später erblickte er über seinem Kopf eine Stiefelspitze. Sie ragte aus einer langen hohen Kluft, die knapp zwei Meter über dem Boden endete. Es gab dort einen flachen Fels, ähnlich wie ein Sims, von dem aus man den Höhleneingang im Blick hatte. Shan zog sich ein Stück hoch und leuchtete den Hohlraum aus. Winslow saß auf dem kleinen Vorsprung.
»Wir müssen jetzt los«, drängte Shan, doch der Amerikaner musterte die Schatten hinter ihm und schien ihn nicht zu hören. Shan kletterte nach oben und streckte die Hand aus, um Winslow abermals das Gesicht abzuwischen. Dann zuckte er jedoch erschrocken zurück. Der Schaum auf Winslows Lippen war kalt, und die offenen Augen des Amerikaners starrten ins Leere.
Shan sank vor dem Toten zu Boden. Ein langgezogenes Schluchzen ließ ihn am ganzen Körper erbeben. So viele Male hatte Shan sich gewünscht, daß der Amerikaner zu seiner Botschaft zurückkehren würde, so viele Gelegenheiten waren ungenutzt verstrichen. Nur ein einziger Anruf, ein Wort in der Operationszentrale in Golmud, eine Bitte an Jenkins im Öllager und Winslow wäre in Sicherheit gewesen. Doch jedesmal aufs neue hatte er sich entschieden zu bleiben.
Nach einer Weile erkannte Shan, daß auf Winslows Beinen ein Bündel lag, eingewickelt in schwarzen Stoff. Und auf
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