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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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riesigen Lache aufspritzen ließen, die sich unter ihnen gebildet hatte. Shan hatte den Eindruck, seine Hände gehörten jemand anders und würden ganz wie von selbst arbeiten. Er glitt an einen Ort, der ihm fremd war. Aus Erzählungen wußte er, daß die Mönche im alten Tibet solche Geräusche nicht nur bei Ritualen, sondern auch zur Meditation genutzt hatten. Das Hämmern der Trommel wurde zum Schlag seines eigenen Herzens, und das Echo, das an seine Ohren drang, schien nicht von der gegenüberliegenden Seite des Tals zurückgeworfen zu werden, sondern von einem anderen, fernen Refugium, wo etwas Gewaltiges auf den Klang reagierte und sich regte, als würde es erwachen. So wie bisweilen ein Berg sich regte.
    Es war, als würde im Tal einer von Lokeshs Karmastürmen toben, als würde alles geschehen, was geschehen konnte, viel zu schnell, um begriffen zu werden, zu plötzlich, um die Schmerzen dabei wirklich zu spüren. Shan konnte nicht aufhören, die Trommel zu schlagen. Die Trommel schlug ihn. Sein Zeitgefühl ging verloren, doch irgendwann merkte er, daß Gang dicht neben ihm stand, den Kopf geneigt hatte und ihn ansah, nicht streng oder wütend, nur matt und flehentlich. Shan reichte die Schlegel an ihn weiter und trat beiseite. Es war mindestens eine Stunde vergangen. Die Plattform unter ihnen war leer, und die hohen Funktionäre saßen an den Tischen und speisten, als wäre ihnen nicht bewußt, daß soeben ihr Bohrturm geflutet wurde. Vermutlich machten sie sich keine Sorgen, weil sie wußten, daß das Wasser bald zurückweichen und die Arbeit weitergehen würde.
    Der Bohrturm war menschenleer, und der schmutzige Tümpel rund um seinen Sockel maß ungefähr neunzig Meter im Durchmesser, doch es schien kein Wasser mehr nachzufließen. Jenkins' Bulldozer hatten die Erde der Gerstenfelder am Ende des Tals zu einem provisorischen Damm zusammengeschoben, und hinter dieser langgestreckten niedrigen Barriere war ein neuer Teich entstanden.
    Shan betrachtete Gang, der sich inzwischen an demselben Ort zu befinden schien, an den die Trommel jeden von ihnen mitgenommen hatte. Der Blick des Mannes ging ins Leere. Ungeachtet der noch nicht verheilten Brandwunden hielten seine Hände die Schlegel fest umklammert - als ginge es nicht um eine Trommel, sondern um sein Leben. Shan wußte nun, daß der verbitterte Han ihn in jener Nacht überfallen und das Auge an sich genommen hatte.
    Aber warum? Weil er meinte, Shan habe kein Anrecht darauf, das Auge zurückzubringen? Weil er einfach nicht glauben konnte, daß außer ihm noch ein rechtschaffener Chinese existierte? Höchstwahrscheinlich deshalb, weil er die meiste Zeit seines Lebens darauf verwandt hatte, Buße zu tun und sich den Tibetern zu beweisen, nur um das sichtbarste Zeugnis seiner Reue, die wiederaufgebauten Schreine, in Flammen aufgehen zu sehen.
    Shan stieg ins Tal hinab und mischte sich unter die Arbeiter, die immer noch mit Schaufeln und Hacken umherrannten. Ein Lastwagen voller Baumstämme raste vorbei. Soldaten in schlammverkrusteten Uniformen liefen ihm entgegen und stiegen jenseits des Bohrturms eilig in zwei wartende Truppentransporter ein. Shan beobachtete, wie der erste der Lastwagen mit hoher Geschwindigkeit davonfuhr, das Lager durchquerte und das Tal verließ.
    »Zu spät, um die Kriecher noch einzuholen«, hörte Shan jemanden belustigt feststellen. Ein Stück hinter ihm stand ein breitschultriger Tibeter in einem schmutzigen Overall.
    Shan kam näher. »Die Kriecher sind schon weg?« fragte er.
    »Denen geht's nicht um die Ölquelle«, sagte der Mann. »Für die sind hundert Widerständler wesentlich verlockender.«
    Shan schloß die Augen und mußte gegen eine Woge der Angst ankämpfen. Irgendwo gab es eine Lichtung, eine kleine hohe Lichtung, wo die Tibeter auf Jokar warteten und sich machtvolle Unterstützung bei der Auflehnung gegen Peking versprachen. Sie hofften auf einen Anführer, den man wie keinen anderen respektieren und der ein neues Idol werden würde, ein moderner Siddhi. Somo und viele der purbas mußten in diesem Moment dorthin unterwegs sein, ebenso Gyalo und Jokar. Manche der purbas waren bewaffnet.
    Sobald er die Bäume auf der anderen Seite des Tals erreichte, fing Shan an zu laufen. Er wußte nicht, wo diese Lichtung lag, sondern konnte nur in östlicher Richtung die höchsten Grate des riesigen Bergs ansteuern und inständig hoffen, daß er Spuren fand oder Tibetern begegnete, die ihn zu Jokar führen würden. Er lief, bis er

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