Das tibetische Orakel
einer Gottheit sprechen.
Jenkins unterschätzte die Gefahr gewiß nicht. Durch das Fernglas konnte Shan sehen, daß der Amerikaner inzwischen in der Nähe der Dorfruinen auf der Ladefläche eines Lasters stand und Anweisungen brüllte, während die Bulldozer zum Ende des Tals krochen. Der Manager wollte einen Damm errichten, um das Wasser vom Bohrturm fernzuhalten, doch es strömte bereits ein schmaler Flußlauf den Hang hinunter, und ein Dutzend kleiner Nebenarme verteilte sich über die Gerstenfelder.
Als Shan sich umdrehte, war Nyma auf einmal da und kümmerte sich um die verletzte Hand des Professors, während seine Assistentin Wasser darüber ausgoß. Lepka starrte unverändert auf den Fluß, der in die Felder lief.
»Der Wille der Götter ist schwer vorauszuahnen«, sagte der alte Mann.
Plötzlich hielt jemand Shan eine rotbefleckte Hand vor das Gesicht, und er sah in Somos funkelnde Augen. »Ich habe Winslow getroffen«, sagte sie. »Er meint, unser Drakte könne nun weiterziehen, und das sei allein Ihr Verdienst.«
Winslow. »Wo ist er?« fragte Shan.
»Unterwegs nach oben.«
Somo deutete auf den Bergkamm. Gyalo und Jokar befanden sich auf halber Strecke, und in diesem Moment gesellte sich unverkennbar der Amerikaner zu ihnen. Winslow ging fort, trat endlich die Flucht an.
»Ich wollte mich bei ihm bedanken«, sagte Shan. »Weil er Draktes Buch in Padmes Tasche gesteckt hat.«
Er hatte das Buch zuletzt in Larkins Höhle gesehen, doch er wußte noch, wie der Amerikaner mit seinem Rucksack in der Menge verschwunden war, als Padme die Tasche auf dem Boden abgestellt hatte. Shan beobachtete, wie Winslow den Hang hinaufstieg und registrierte dann noch viele weitere Gestalten dort oben. Die Tibeter aus Larkins Gruppe.
»Wohin werden sie gehen?« fragte er Somo.
»Zum Treffpunkt«, sagte sie. »Wo die anderen auf Jokar warten.«
Erschrocken starrte Shan den Leuten hinterher. Somo meinte den Stuhl des Siddhi, des rebellischen Mönchs. Nach allem, was heute im Tal passiert war, würden die Tibeter mehr als je zuvor gewillt sein, gegen die Regierung aufzubegehren. »Jokar würde Gewalt niemals gutheißen«, sagte er bekümmert und wandte den Kopf, aber Somo war nicht mehr da.
Erfüllt von neuerlicher Angst ging er einen Schritt auf den Bergkamm zu. Nichts hatte sich wirklich verändert. Die Behörden würden nicht nur Jokar, sondern mit ihm auch viele Tibeter ergreifen. Shan atmete tief durch und lief los. Dann setzte das Trommeln ein.
Er machte kehrte und steuerte den anderen Hang an. Lhandro war unversehens neben ihm und lief ebenfalls auf das Geräusch zu, bei dem Shan den Götterstein vermutete. Doch als sie in etwa dreißig Metern Höhe einen kleinen Felsvorsprung erreichten, von dem aus man das Tal überblicken konnte, wurde der rongpa langsamer. Das Wasser war bis zum Bohrturm vorgedrungen und bildete dort einen kleinen schlammigen Tümpel. Die Arbeiter hatten innegehalten und starrten hinab. Einer von ihnen sprang hinunter und rannte quer durch die Felder dem Ursprung der Fluten entgegen. Dann blieb er stehen, sank auf die Knie und reckte mitten im Matsch die geballten Fäuste gen Himmel.
Lhandro zögerte und schaute gequält auf sein kostbares Tal hinab, das im Chaos versank. Shan legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das Wasser wird aufhören«, versicherte er dem rongpa. »Es verschafft Jokar und den anderen lediglich eine weitere Chance, das ist alles«, sagte er, als habe die Gottheit dies von vornherein geplant. Verwirrt durch die eigenen Worte drehte er sich um und lief weiter, während Lhandro auf die Ruinen seines Dorfes zuhielt. Das Trommeln, die jeweils zwei kurzen Herzschläge, schien nun ganz in der Nähe zu erklingen, fast genau über der Mitte des Tals, unweit der Stelle, an der Shan an seinem ersten Tag die Verfolgung der fortgewehten khata aufgenommen hatte. Shan lief zunächst in Richtung des Wasserdurchbruchs. Dann, nach ein paar hundert Metern, näherte er sich immer mehr der Waldgrenze, verschwand im Schatten der Bäume und eilte in Gegenrichtung diagonal den Hang hinauf.
Er stieg bis über den Ursprungsort des Geräusches auf und tastete sich nach unten vor. Von hier aus klang es gedämpft, weil der Trommler sich abermals vor einigen großen flachen Felsen plaziert hatte, so gedämpft, daß Shan mehrere hohe Stimmen vernahm, die zu lachen schienen. Plötzlich rutschte er auf losem Geröll aus, geriet blindlings ins Stolpern und fiel in ein niedriges Dickicht. Er fand sich
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