Das tibetische Orakel
Tunnel, der geradewegs in den Himmel führte.
»Jokar wußte es vorher«, keuchte Winslow. »Ich meine, bevor wir heute hergekommen sind. Er wußte es schon an dem Tag, an dem er mich berührt hat.«
Shan erinnerte sich, wie bekümmert Jokar bei der Untersuchung des Amerikaners gewirkt hatte.
»Jetzt begreife ich«, murmelte Winslow. »Es ging immer nur darum, alles zurückzulassen, nicht wahr?«
Shan erhob sich und zog an Winslows Arm, um ihm aufzuhelfen. Der Amerikaner wog viel mehr als er und regte sich kaum. Shan starrte ihn an. Winslow hatte seine Arbeit aufgegeben, seinen Paß, seine Besitztümer, die Trauer um seine Frau, einfach alles, was vorher gewesen war, die Überbleibsel seines bisherigen Lebens. Es stimmte. Seit dem ersten Tag ihres Zusammentreffens, als der Amerikaner todesmutig auf dem Yak geritten war, hatte er nach und nach alles zurückgelassen.
»Ich schätze, Sie. sollten mal nach Jokar sehen. Nehmen Sie die Lampe mit. Danach machen wir uns auf den Rückweg, ja?«
Zögernd stieg Shan über die Beine des Amerikaners. »Wir gehen auf dem Pfad nach unten. Wir kriechen einfach immer ein Stück weiter, und dann wird es Ihnen bald bessergehen.«
»Mir wird's bessergehen. Sie haben gewonnen«, flüsterte Winslow, und seine Finger zuckten ein wenig, als wolle er auf die Höhle deuten.
Im Innern hing ein schaler Weihrauchgeruch in der Luft, der beim ersten Mal noch nicht vorgeherrscht hatte, aber die Kammer war leer, und es brannte nirgendwo Weihrauch. Shan ging zu den Heiler-thangkas , nahm jedes kurz in Augenschein und versuchte sich zu beruhigen. Als er das besonders lange Stoffgemälde erreichte, fiel sein Blick auf die dorje -Sammlung. Neben der Sandelholz- dorje lag ein neues Exemplar, eines aus Bronze, das durch jahrzehntelange Benutzung blankgerieben worden war. In der Nähe lehnte noch etwas anderes an der Wand. Ein langer hölzerner Stab, ebenso abgenutzt und verwittert wie die dorje. Neben den dorjes lagen auf dem schmalen Sims zwei kleine verstaubte Gegenstände, die Shan beim vorigen Besuch nicht aufgefallen waren. Er nahm einen und wischte den Staub ab. Es handelte sich um einen schmalen, perfekt geformten Knochen. Shan säuberte das zweite Teil. Es schien ein Stein zu sein, aber dann merkte er, wie leicht es war. Er musterte die beiden Gegenstände erneut und entdeckte, daß er sich geirrt hatte. Der Stein war ein kunstvoll geschnitztes Stück Knochen, und der Knochen war ein erstklassig bearbeiteter Stein.
Shan zog das thangka beiseite. Sofort nahm der Weihrauchgeruch zu. Hinter dem alten Gemälde lag ein Tunnel, genau wie Shan erwartet hatte. Er folgte dem Gang steil nach unten, bevor er eine niedrige breite Kammer erreichte. An einer der Wände hing ein weiteres großes thangka , das aber diesmal keinen Heilenden Buddha, sondern einen grimmigen Schutzdämon zeigte: Rahula, eine zornige Gottheit mit mehreren Köpfen und einem Schlangenkörper anstelle von Beinen.
Shan umklammerte das gau , das um seinen Hals hing, und schlug auch dieses thangka zur Seite. Der schmale Raum dahinter war etwa zwölf Meter lang. An seiner rechten Wand verlief ein breiter, knapp einen Meter hoher Vorsprung, so gerade und rechtwinklig wie eine Bank. Vor der Mitte der linken Wand stand ein kleiner verzierter Altar aus poliertem Holz, darauf ein vierzig Zentimeter hoher goldener Buddha hinter den sieben traditionellen Opferschalen. Langsam näherte Shan sich dem Altar. Die drei dem Wasser vorbehaltenen Schalen waren trocken und verstaubt. Daneben brannten auf einer flachen Steinplatte ein einzelnes Weihrauchstäbchen und ein Kerzenstummel. Zu beiden Seiten des Altars standen einige große Tongefäße von bis zu einem halben Meter Höhe, die getrocknete Kräuter enthielten.
Mit dem gau in der Hand verharrte Shan einen Moment vor dem Buddha und wandte sich dann zu den Lamas um. Er zählte fünfzehn von ihnen, die hier auf dem langen Felsvorsprung saßen, und ging dann ans hintere Ende, wo die Reihe mit einem Mann in grobem Sackleinen begann. Neben ihm stand eine Steinschale zum Mischen von Kräutern, und in den ordentlich verschränkten Händen auf seinem Schoß hielt er eine mala mit Perlen aus Koralle. Seine Haut glich verdorrtem Pergament, und sein nach hinten geneigter Kopf, nun kaum mehr als ein eingeschrumpfter Totenschädel, schien ein wenig zu grinsen. Er mußte einer der ersten Lama-Heiler gewesen sein und hatte wahrscheinlich vor ungefähr dreihundert Jahren in diesem Berg Platz genommen.
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