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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hohe versteckte Lichtung gewesen, wo die Tibeter an dem Felsen warteten, der Stuhl des Siddhi genannt wurde. Jokar und vielleicht auch Winslow hatten sie begleitet, waren aber nicht mehr da. Der Mönch und der Yak wirkten nicht aufgeregt oder beunruhigt, nur traurig und verwirrt. Jampas große feuchte Augen richteten sich erwartungsvoll auf Shan, dann auf den hohen Berggrat. Der Yak stieß ein Geräusch aus, kein Brummen oder Schnauben, sondern ein lautes Wehklagen, das abrupt mit einem tiefen Atemzug endete, ähnlich wie ein Schluchzen.
    Shan musterte das Tier und den einsamen Mönch auf der Felssäule. Dann lief er den tückischen Ziegenpfad hinauf. Die Sonne hing tief am westlichen Himmel und überzog die riesige Felswand mit einem schwachen rosafarbenen Schimmer, als Shan den schmalen Spalt erreichte, in dem sie sich auf ihrem Weg über den Berg Yapchi vor dem Helikopter versteckt hatten. Die Stille im Innern glich der eines uralten Tempels. Kein Wind wehte. Kein Vogel rief. Allein das trübe Licht war ein Hinweis auf die Außenwelt.
    Er folgte der Wand zu seiner Linken in die dunklen Schatten, vorbei an dem niedrigen Felssockel und den staubbedeckten Gebetsfahnen, bis er plötzlich ein rasselndes Geräusch vernahm. Er hielt inne und starrte in die Dunkelheit. Schließlich erkannte er vor sich auf dem Pfad zwei ausgestreckte Beine. Es war Winslow.
    Der Amerikaner war so schwach, daß es ihm kaum gelang, den Kopf zu heben. »Verdammt, Shan, Sie müssen sich abgewöhnen...«
    Winslows Worte wurden durch abgehacktes Röcheln unterbrochen. Es klang, als würde er ersticken. »... überall herumzuschnüffeln.«
    Shan tastete an Winslows Bein nach der Tasche, in der die Lampe des Amerikaners steckte. Als er sie einschaltete, erschrak er. Aus Winslows Mund drang rötlicher Schaum und tropfte ihm aufs Hemd. Shan sah ihn an. Es blieb keine Zeit für irgendwelche Erklärungen. Hektisch durchsuchte er die anderen Hosentaschen, bis er die Tablettenflasche fand. Sie war leer.
    »Ich hab. die letzte vor vier Stunden geschluckt«, keuchte Winslow. »Er mußte herkommen, und ich konnte ihn nicht allein gehen lassen. Die ersten zwei Kilometer hab ich ihn getragen. Fast hätte ich's nicht geschafft. Der alte Jokar.«
    Winslow wollte sich offenbar ein Lächeln abringen, doch es kam nur eine Grimasse dabei heraus. »Er mußte mir ein paarmal helfen und mir seinen Stab als Stütze leihen. Ich habe ihm geholfen und er mir. Ohne den anderen hätte es keiner von uns geschafft.«
    Der Amerikaner stöhnte auf und wollte sich an den Kopf greifen, konnte die Hand aber nicht weit genug heben. »Mein Schädel. ich hätte nie gedacht, daß es solche Schmerzen gibt.«
    Seine Lider schlossen und öffneten sich mehrere Male.
    Shan wischte ihm das Gesicht ab. Der Schaum und die Kopfschmerzen bedeuteten, daß Winslow an Lungen- und Hirnödemen litt. In seinen Organen sammelte sich immer mehr Flüssigkeit an.
    »Wir müssen Sie nach unten schaffen«, stieß Shan verzweifelt hervor. Man konnte für Winslow nichts anderes tun, als ihn den Berg herunterzutragen, und zwar auf einem schmalen trügerischen Wildpfad, mitten im Dunkeln.
    Winslow schien die Augen nur mühsam offenhalten zu können. »Gehen Sie. kümmern Sie sich um Jokar.«
    Shan schaute in den dunkelsten Teil des Schattens, wo der Eingang zur Höhle lag. »Jokar würde wollen, daß Sie ins Tal steigen.«
    Etwas berührte Shans Hand. Winslow griff mit den Fingern nach ihm, so schwach wie ein kleines Kind. Der angestrengt rasselnde Atem des Amerikaners war das einzige Geräusch in der Stille.
    Winslows Finger zitterten. »Was ist das?« keuchte er. »Es klingt wie Wind.«
    Doch da war nichts außer seinem eigenen Atem. Abermals rann ihm Schaum über das Kinn. »Langsam verstehe ich es«, flüsterte Winslow. »Dieses ganze Vergänglichkeitsding. Es ist ein Geschenk, genau wie die alten Lamas gesagt haben.«
    Die Worte hingen wie ein Gebet in der Luft.
    »Ich bringe Sie nach unten«, beharrte Shan und unterdrückte das Gefühl der Hilflosigkeit.
    »Keine Chance«, stellte Winslow seltsam gelassen fest. »Nicht auf diesem Pfad. Wir würden alle beide ums Leben kommen. Zum Teufel, ich kann nicht mal aufstehen, geschweige denn laufen. Falls Sie versuchen, mich zu tragen, stürzen wir ab.«
    Shan folgte Winslows Blick zur Spitze des Berges, die man oben durch den mächtigen Spalt sehen konnte. Sie wurde von der untergehenden Sonne in strahlendgoldenes Licht getaucht, als befänden sie sich in einem

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