Das tibetische Orakel
auf Knien wieder, unmittelbar vor zwei spielenden Kindern, einem Jungen und einem Mädchen in nahezu gleichem Alter. Sie kamen ihm irgendwie vertraut vor, und im ersten Moment glaubte er, sie in Yapchi gesehen zu haben, doch dann keuchten sie erschrocken auf, weil sie ihn ebenfalls erkannten, und sahen zu einer Gestalt, die in drei Metern Entfernung zwischen den Felsen hockte und ins Tal starrte. Der Junge lief zu dem Mann, der sich umwandte und Shan aus großen überraschten Augen ansah. Dann fiel sein Blick auf den flachen Stein, neben dem die Kinder gespielt hatten. Auf dem Stein lag das Auge von Yapchi.
Der Mann erhob sich. Es war Gang, der chinesische Bewahrer von Rapjung. Er wirkte zerlumpt und erschöpft, und seine verbrannten Hände waren immer noch bandagiert, aber er blieb diesmal friedlich und sagte nichts, als Shan an ihm vorbeiging und zu den unterhalb gelegenen Felsen sah.
Dort saß ein Mann, schlug mit zwei lederumwickelten Schlegeln die große Trommel und beobachtete mit wild funkelndem Blick das Tal. Shan stieg hinunter und setzte sich neben ihn. Das Trommeln stockte und verklang.
»Es ist Shan«, sagte Dremu, als sei noch jemand dort, und schaute mit offenem Mund zu den Felsen über ihnen.
»Du hast sie gefunden«, stellte Shan fest. »Die Trommel und das Auge.«
Dremu nickte ernst. »Das hätten wir gebraucht, als ich mit meinem Vater vor vielen Jahren in den Bergen war.«
»Ich glaube, es stimmt nicht, daß die Leute von der Ölfirma dich geschnappt haben«, sagte Shan. »Diese zwei goloks wollten uns überfallen.«
Dremu schien ein Stück kleiner zu werden. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und schlang beide Arme um die Trommel, als müsse er sich festhalten. »Das war davor«, murmelte er.
»Vor was?«
Der golok hielt einfach nur die Trommel und sah zu Boden. »Das sind nicht meine Freunde. Sie sind wild, wie Leoparden. Anfangs dachte ich, wir könnten zusammen genug Geld für den nächsten Winter auftreiben. Solange wir nur die Ölfirma bestohlen haben, war alles in Ordnung, aber als sie herkamen und sagten, sie würden sich nun die Bauern vorknöpfen, wollte ich sie aufhalten. Sie haben mich zusammengeschlagen und mir alles abgenommen, was ich besaß, sogar mein Pferd.«
Shan griff in die Tasche, holte den Lederbeutel, den Lapislazuli-Armreif und das Messer mit dem Löffel heraus und legte die Gegenstände nacheinander vor Dremu auf den Felsen. Der golok starrte sie an und nahm dann mit ehrfürchtiger Miene den Beutel. »Ich hatte nur noch, was ich am Leib trage. Das war bevor.«
Bevor was? hätte Shan beinahe erneut gefragt, aber aus irgendeinem Grund kannte er die Antwort bereits. Dremu meinte, bevor die Gottheit durch die Trommel zu ihm gesprochen hatte.
Hinter den hohen Felsen regte sich etwas, und dann kam Gang zu ihnen, gestützt auf seinen Sohn. Er hielt Shan den chenyi-Stein entgegen.
»Dieser Mann war fast tot«, sagte Dremu. »Zuerst bin ich auf seine Familie gestoßen, die weinend nach ihm suchte und befürchtete, ihn für immer verloren zu haben. Sie dachten, er sei ausgezogen, um dich zu töten. Dann haben wir ihn und die Trommel gefunden. Er schien nicht mehr bei Sinnen zu sein und sagte kein Wort. Es war, als würde die Trommel ihn beherrschen, und nicht umgekehrt.«
Dremu sah Shan müde an. »Ich konnte nicht, wollte nicht.«
»Das hast du gut gemacht«, sagte Shan. »Du hast die Gottheit bewahrt.«
Gang stieß seinen Sohn weg und taumelte weiter. Er streckte den Stein mit beiden Händen aus und flehte Shan aus matten glasigen Augen an. Dann brach er schluchzend in Tränen aus und schaffte es gerade noch, das letzte Stück vorzutreten und den chenyi-Stein in Shans Hände fallen zu lassen.
Shan musterte den Stein und ließ den Blick über das Durcheinander im Tal schweifen. Er fühlte sich leer und ausgelaugt, wußte nicht, wohin er gehen sollte oder was er noch tun konnte. Schließlich griff er nach Gangs Hand und gab ihm den Stein zurück. Dann nahm er die beiden Trommelschlegel, tauschte einen feierlichen Blick mit Dremu aus und fing an, die Göttertrommel zu schlagen.
Kapitel 19
Dremu starrte Shan ungläubig an und legte den Kopf schräg, als würde er seinen Augen nicht trauen. Dann breitete sich auf seinem müden Antlitz allmählich ein Lächeln aus, und er zeigte Shan, wie man den schnellen Doppelschlag hinbekam, den Herzton. Sie hörten die Kinder lachen und sahen trommelnd dabei zu, wie immer mehr Arbeiter vom Bohrturm sprangen und das Wasser der
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