Das tibetische Orakel
dem Stoff steckte zwischen den Fingern des Amerikaners ein Zettel. Vorsichtig zog Shan das Papier aus der leblosen Hand. Die auf englisch verfaßte Nachricht war kaum zu lesen. Offenbar hatte Winslow sie unmittelbar vor seinem Tod geschrieben, mit zitternden Fingern und im Dunkeln. Shan benötigte mehrere Minuten, bis er sie vollständig entziffert hatte.
Bei allem, was heilig ist, lassen Sie mich hier, damit ich über die Lamas wachen kann. Erzählen Sie es niemandem außer Melissa. Sollen die anderen sich ruhig wundern, es ist der letzte kleine Streich, den ich der Welt spiele. Es ist gar nicht so schlimm, Shan. Ich glaube, ich kapiere allmählich, wie dieses Vergänglichkeitsding läuft. Diesmal gehöre ich hierher. Jeder Lama braucht einen Cowboy.
Shan saß lange da und rang mit der finsteren Leere in seinem Innern. Der Tod war ein alter Bekannter. Er machte ihm keine Angst, aber er schüchterte ihn ein, ließ ihn sich so unvorbereitet und mangelhaft fühlen, als würde er das, was seine tibetischen Freunde als kostbare menschliche Inkarnation bezeichneten, einfach verschwenden.
Schließlich löste sich die eisige Klammer um sein Herz, und er konnte es ertragen, Winslow in die Augen zu schauen, als wären sie lediglich zwei Freunde, die schweigend den Einbruch der Nacht beobachteten. Er sah den Amerikaner ein letztes Mal an, las erneut die Nachricht und wußte, daß Winslows Suche in gewisser Weise erfolgreich gewesen war. Dann stand er auf, nahm das Bündel von Winslows Schoß, verschränkte die Hände des Amerikaners über den reglosen Beinen und schloß ihm die Lider. Er zögerte kurz, durchsuchte die Taschen des Toten und fand den winzigen Salzbeutel, den Jokar angefertigt hatte. Er schob das Säckchen in Winslows Hand, legte dessen Finger um die wahre Erde und stieg nach unten.
Der Amerikaner hatte begriffen, was hinter dem langen thangka lag und wohin Jokar ging. Er wollte über die Alten wachen. Er wollte hierbleiben, bei allem, was heilig war.
Shan wanderte zurück in den Berg und nahm das schwarze Bündel mit, das Winslow im Tod umklammert hatte, das Bündel aus Padmes Aktentasche, durch dessen Austausch es ihm gelungen war, Khodraks Lügen zu beweisen. Shan fühlte sich, als würde jemand ihn führen, und tappte wie ein Blinder auf die Grabkammer zu, um das Bündel abzuliefern. Es sei Winslows Geist, der Shan bat, ihm den Weg zu den Lamas zu zeigen, damit er ein letztes Opfer darbringen könne, hätte Lokesh gesagt. Und Shan hätte ihm in diesem Moment nicht widersprochen.
Die Kerze auf dem Altar flackerte immer noch, aber der Docht war fast niedergebrannt. Shan legte das Buch vor der Steinbank ab und betrachtete ein weiteres Mal die Lamas. Das zuckende Licht schien die Gesichter der alten Männer mit Leben zu erfüllen.
»Er hat beschlossen, dich nicht zu verlassen, Jokar«, flüsterte Shan. Ihm fiel wieder ein, was der Lama beim Mischsims zu Winslow gesagt hatte. »Dieser Amerikaner ist tatsächlich von weither gekommen.«
Danach hatte Winslow ihm zutiefst ergriffen von dem Traum erzählt, in dem er Hand in Hand mit Jokar durch die Luft geflogen war. Vielleicht befanden die beiden sich jetzt genau dort, schwebten über dem Berg und lachten über die Überraschung, die sie allen da unten bereitet hatten. Shan mußte an die zwei Gänse denken, die ihm ein paar Stunden zuvor aufgefallen waren.
»Es ist ein so perfekter Ort für den Abschluß«, stellte eine tiefe körperlose Stimme auf einmal fest.
Shan zuckte zurück, als habe ihn ein Schlag getroffen. Sein Herz raste, und er starrte mit offenem Mund Jokar an.
Dann trat eine hochgewachsene hagere Gestalt durch den Eingang, deren Gesicht so müde, die Augen so groß und die Züge so gefühlsbeladen waren, daß Shan einen Moment benötigte, bis er Tenzin erkannte.
Der Abt von Sangchi zog eine Kerze aus der Tasche, ging wortlos zu dem Altar und entzündete sie an dem verglimmenden Wachsrest. Dann stellte er sie dort ab, drehte sich um und musterte die Toten auf der Bank. »Du hast den Stuhl gefunden«, flüsterte er ehrfürchtig, schritt langsam die Reihe ab und verharrte bei jedem der Lamas zum stummen Gebet, bis er das hintere Ende erreichte, den Ältesten der Alten, den mit dem grinsenden Schädel und dem Gewand aus Sackleinen.
»Wie meinst du das?« fragte Shan, während Tenzin den toten Lama betrachtete.
»Siddhi war der erste«, erwiderte Tenzin, »der erste Lehrmeister in Rapjung. Lepka hat mir am Mischsims davon erzählt, nachdem die
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