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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Gebete aufzusagen. Dremu musterte argwöhnisch die Leute im Lager, die ihn entweder völlig ignorierten oder mit offener Feindseligkeit anstarrten. Er stieß einen Fluch aus und ging zu seinem Pferd. Shan vermutete, der golok wolle das Tier striegeln, doch plötzlich saß er im Sattel, galoppierte davon und verschwand zwischen den Hügeln. Der Mann hatte seine Bezahlung bereits erhalten. Shan bezweifelte, daß sie ihn wiedersehen würden.
    Zusammen mit Lokesh schlenderte er durch das Lager und hielt dabei nach Anzeichen eines Mannes mit einem Fisch Ausschau - oder nach einer anderen Erklärung für die rätselhafte Warnung des Mönchs. Sie verweilten an einem Feuer, wo eine Frau süßen Teig für die Kinder backte, bis Lokesh beschloß, er wolle nun bei der Grabung nach den tonde helfen. Shans alter Freund war immer auf der Suche nach diesen kleinen Schätzen und bemühte sich, stets neun davon in seinem Besitz zu haben, weil das als eine mächtige Glückszahl galt.
    Shan sah, wie Lokesh zu dem Hang ging, an dem der Mann mit der Fellmütze grub, schlug dann einen Bogen um die Zelte und wollte sich von hinten jener Behausung nähern, vor der der alte Mann mit dem Stab Wache hielt.
    Doch am Ufer stand Tenzin, schaute unglücklich auf den Lamtso hinaus und hielt seine neue Gebetskette reglos zwischen den Fingern. Shan blieb stehen, trat an seine Seite und setzte sich auf einen Felsen. Der Kummer, den der stumme Tibeter bei Draktes Tod empfunden hatte, schien auf sein Antlitz zurückgekehrt zu sein.
    »Als ich im Straflager saß«, sagte Shan nach langem Schweigen, »da gab es in meiner Baracke einen Mann, der einen Offizier der öffentlichen Sicherheit geschlagen hatte und dafür verurteilt worden war. Sein Geist war dermaßen von Sorgen geplagt, daß er kaum ein Wort über die Lippen bekam, und alle fürchteten, er würde sich das Leben nehmen. Am Ende gelang es den Lamas, ihn zum Reden zu bringen, und er offenbarte ihnen die Last, die auf seiner Seele lag. Er gestand, er habe einen Chinesen getötet, den er beim Diebstahl eines Schafes überrascht hatte. Der Chinese hatte die Frau des Mannes bewußtlos geschlagen und ihn selbst mit einer Pistole bedroht. Niemand, nicht einmal seine Frau, wußte von dem Kampf zwischen den beiden und dem Tod des Chinesen. Er hatte die Leiche versteckt, und der Vorfall mit dem Kriecher geschah erst später, als der Offizier sich weigerte, die verletzte Frau im Wagen mitzunehmen.«
    Tenzin senkte den Blick auf den Boden zu Shans Füßen und ließ nur dadurch erkennen, daß er ihn gehört hatte.
    »Ein Lama gab dem Mann einen Kiesel und ließ ihn sich darauf konzentrieren.«
    Shan nahm einen großen Stein in die Hand. »Er sagte dem Mann, er solle all seine Schuld in den Kiesel schieben und ihn dann in einen Fluß werfen. Der Mann wurde dadurch geheilt.«
    Tenzin musterte den Stein, fixierte Shan mit unsicherem Blick und entfernte sich ein Stück, um einen schweren Felsbrocken aufzuheben. Er hielt inne, sah Shan durchdringend an, warf den Felsen ins Wasser und drehte sich erneut zu Shan um.
    Shan erwiderte den Blick einen Moment lang und wandte sich dann ab. Was hatte dem Mann eine solche Qual verursacht? Eine Erinnerung regte sich. Die dropka hatte erzählt, Tenzin sei am Abend vor Draktes Tod weggegangen. In jener Nacht war Chao ermordet worden. Shan sah die letzten kleinen Wellen, die der schwere Fels ausgelöst hatte. Für einen einzelnen Toten hatte ein Kiesel gereicht.
    Shan zog sich zurück und hielt auf die Jurte zu. Der alte Hirte sah ihm mißtrauisch entgegen und hob drohend den Stab.
    »Das Mädchen hat dir ein tonde gebracht«, sagte Shan zögernd.
    »Nicht mir. Geh weg. Dies ist das Zelt meiner Familie. Die Leute schlafen.«
    »Und du bewachst ihren Schlaf?«
    Aus dem Augenwinkel sah Shan mehrere Gestalten herbeieilen.
    »Es gibt frischen Tee!« rief die Frau mit der bunten Schürze aus einiger Entfernung und winkte Shan zum Feuer. Er jedoch schob schnell den Stab des Mannes beiseite und betrat das Zelt.
    Eine alte zahnlose Frau, die einzige Person im Innern, stöhnte laut auf, als sie ihn kommen sah. »Nein!« rief sie, erhob sich und ließ die Gebetsmühle sinken, die sie gedreht hatte. »Ein Chinese!«
    Shan hörte hinter sich hastige Bewegungen und rechnete damit, fortgezerrt zu werden, doch dann meldete sich eine sanfte Stimme aus der Dunkelheit im hinteren Bereich des Zeltes. »Er ist ein Freund der Lamas«, sagte eine Frau, und der Mann hinter Shan hielt inne und ließ

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