Das tibetische Orakel
den erhobenen Stab sinken.
»Nyma?« fragte Shan und tastete sich in den Schatten vor, wo man mit zwei Filzdecken eine kleine Ecke abgeteilt hatte. Eine Hand erschien zwischen den Decken und zog eine davon zur Seite, so daß Shan sich vorbeugen und den dunklen, engen Raum betreten konnte.
Nyma saß im trüben Licht einer einzelnen Butterlampe neben einem Strohlager und hielt die Hand einer etwa dreißigjährigen Frau. Der Liegenden standen Schweißperlen auf der Stirn, und ihr Atem klang gequält. Sie schien sich trotz ihres schmerzverzerrten Gesichts zu bemühen, ein Lächeln aufzusetzen.
»Lokesh«, sagte Shan. »Er ist bei einem Lama-Heiler in die Lehre gegangen.«
»Sie ist vor drei Tagen von einem Sims gestürzt, als sie nachts vor einer Patrouille fliehen wollte. Ich glaube, sie hat sich einige Rippen gebrochen.«
»Dann braucht sie einen Arzt«, drängte Shan. Neben der Schlafstelle lagen eine erdverkrustete Glocke und mehrere schmutzige Gebetsketten.
»Kein Arzt!« rief die alte Frau, die mittlerweile hinter ihnen stand und die Decken zur Seite gehoben hatte.
»Ein paar Nomaden aus dem Osten sind letzte Woche hier vorbeigeritten, haben alle vor den neuen Ärzten gewarnt und geraten, die Kranken zu verstecken und keinem Chinesen gegenüber von tibetischen Ärzten zu sprechen.«
Nyma sah Shan an und hob die Augenbrauen, als wolle sie ihren Unmut zum Ausdruck bringen. »Ich weiß nicht, wieso. Eigentlich weiß es niemand.«
»Aber man kann jemanden, der so schwer verletzt ist, doch nicht einfach verstecken«, sagte Shan. »Was ist, wenn sie innere Blutungen hat? Ein Krankenhaus.«
»Wir brauchen diese Ärzte nicht. Sie sind nicht wirklich«, unterbrach ihn die Alte, bückte sich und legte die Hand der Kranken um die kleine Glocke.
Die Frau auf dem Lager starrte Shan an. In ihrem Blick lag Schmerz und Verwirrung.
»Lokesh kennt Medizintees«, stellte Shan fest. Er drehte sich um und ging an der alten Frau und vier grimmigen Hirten vorbei nach draußen.
Er fand Lokesh neben einem frisch aufgetürmten Erdhaufen, erzählte ihm von der Verletzten und schaute ihm nach, als der alte Tibeter aufstand und zu dem Zelt ging. Dann wandte Shan sich um und musterte einen grasbewachsenen Hügel in fast einem Kilometer Entfernung. Zehn Minuten später stand er vor dem anderthalb Meter hohen Steinhaufen, den Drakte mit den Kindern errichtet hatte. Shan umkreiste ihn mehrere Male und ließ sich dann davor nieder. Drakte hatte es eilig gehabt und die letzten Vorkehrungen für den chenyi-Stein treffen müssen, doch es war ihm genug Zeit geblieben, um einen Steinhaufen für die hiesigen Götter aufzuschichten. Und er hatte geplant, mit Shan und dem Auge zu dem Salzlager zurückzukehren. Shan stand auf und betrachtete den großen flachen Stein, der ganz oben lag. Er nahm ihn und legte ihn zu Boden. Die schmale Öffnung darunter war so dunkel, daß er die braune Schnur beinahe übersehen hätte. Er zog daran und holte dadurch einen kleinen Beutel ans Tageslicht. Im Innern fand sich eine mala , eine Gebetskette aus edlen Elfenbeinperlen, die man zu kleinen Tierköpfen geschnitzt hatte. Es handelte sich um eine wertvolle Antiquität, ein regelrechtes Museumsstück. Warum wollte Drakte diese Kette verstecken? grübelte Shan und ließ sie zurück in den Beutel gleiten. Weil es zu gefährlich gewesen wäre, sie in der Woche zwischen seinen Besuchen bei sich zu tragen? Oder wollte er sie hier für eine andere Person deponieren? Shan steckte den Beutel ein.
»So helfen die Chinesen also den Göttern?« fragte eine matte Stimme hinter ihm.
Shan drehte sich langsam zu der dem Lager abgewandten Hügelflanke um und sah Dremu, der zehn Meter weiter unterhalb auf seinem grauen Pferd saß. Der golok wirkte nicht überrascht, nur auf höhnische Weise amüsiert. Er hob ein Bein und legte es quer über den Hals des Pferdes.
Schweigend hob Shan den obersten Stein zurück an seinen Platz. »Ich möchte dich etwas fragen. Wo hast du Drakte kennengelernt? Wo hat er dich angeheuert?«
»In einer Stadt.«
»Lhasa?«
Dremu musterte Shan aus halbgeschlossenen Augen. »Lhasa«, bestätigte er leise. »Ich habe dort Dinge erfahren, die nicht einmal die purbas wußten.«
»Was für Dinge?«
»In diesem Land kann man sterben, wenn man zu viele Geheimnisse ausplaudert.«
»Oder sich zu geheimnistuerisch gibt«, hielt Shan dagegen. Hatte der golok die kostbare Gebetskette gesehen? »Warum hat Drakte gerade dich um Hilfe gebeten? Du bist kein
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