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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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verschränkte die Arme vor der Brust.
    Shan starrte erst sie und dann das Buch an.
    Auf einmal hallte ein lauter Fluch durch das Lager. Dremu schrie eine Frau mittleren Alters an, die kleine Steine nach ihm warf und die Kinder ermutigte, es ihr gleichzutun. Der golok hob drohend die Faust, machte dann aber kehrt und hielt im Laufschritt auf das Feuer zu. Als er den Steinkreis erreichte, blieb er stehen, sah Lhandro an und stellte sich hinter Shan. Auch Lhandro, der freundliche rongpa , hatte mit Steinen nach ihm geworfen.
    »Dieser golok ist hier nicht erwünscht«, sagte Lhandro steif.
    »Ihr habt mich willkommen geheißen und.«, setzte Shan verwirrt an und brauchte die offensichtliche Frage gar nicht erst zu stellen: Warum nahm Lhandro einen Chinesen bei sich auf, aber keinen tibetischen Landsmann?
    »Ich meine nicht alle goloks« , erklärte Lhandro mit schwerer Stimme. »Die Clanleute dieses Mannes waren Räuber. In dem Gebiet zwischen Lamtso und den Bergen von Amdo, wo die goloks beheimatet sind, haben sie früher viele Lager und Dörfer überfallen. Sie haben zahlreiche unschuldige Clans angegriffen und ihnen die Tiere und Gerstensäcke gestohlen.«
    »Diese Banditen sind schon seit langer Zeit tot«, murmelte Dremu. »Die Öffentliche Sicherheit hat sie erwischt und hingerichtet.«
    »Ist dieser Mann noch immer ein Räuber?« wollte Lhandro von Shan wissen.
    Dremu lachte stöhnend auf, als würde er sich nichts sehnlicher wünschen.
    »Du brauchst diesen Mann nicht«, sagte Lhandro, als Shan nicht antwortete. »Du gehst mit uns nach Yapchi.«
    »Aber die purbas haben es so arrangiert«, warf Nyma ein. »Ich glaube, sie wollten jemanden, der die Berge und Verstecke kennt und weiß, wo die Patrouillen suchen. Wir kennen uns mit den Kriechern nicht aus. Drakte hat das alles in die Wege geleitet«, flüsterte sie ernst, als sei die Sache damit erledigt.
    »Ich verstehe nicht ganz«, sagte Shan. »Wer reist denn nun alles ins Tal von Yapchi?«
    Ihr Unternehmen hätte eigentlich ein Geheimnis sein sollen.
    »Wir haben euch erwartet«, sagte Lhandro und wies mit ausholender Geste auf das weiße Zelt, wo die Männer angefangen hatten, die zu einem Stapel aufgetürmten Salzbeutel zuzunähen. »Alle aus meinem Dorf, die hier in das Salzlager gekommen sind. Fünf aus Yapchi und vierzig Schafe. Bei Tagesanbruch geht es los.«
    Wie um Shans Zweifel zu zerstreuen, zog der rongpa eine zerfledderte Landkarte aus der Tasche, entfaltete sie und zeigte Shan den See, ein großes blaues Oval am Rand der Changtang. Dann fuhr er mit dem Finger östlich am Ufer entlang und weiter nach Norden in die Region Amdo, jenen Teil von Tibet, den Peking als Provinz Qinghai bezeichnete. Shan studierte die Karte. Sie war überraschend detailliert, einschließlich eines rot schraffierten, ungefähr achtzig Kilometer breiten Sektors auf der anderen Seite des Lamtso. Am oberen Rand der Karte befand sich ein großer Aufdruck. Nei Lou. Das bedeutete, es war eine Verschlußsache, ein Staatsgeheimnis. Shan sah Lhandro an, der den Blick herausfordernd erwiderte, und wies auf die rote Schraffur. Daneben stand »Toxisches Sperrgebiet«.
    »Ein Armeestützpunkt?«
    »Nein«, seufzte Lhandro. »Schlimmer. In dieser Region gibt es Stellen, an denen spezielle Waffen getestet wurden. Krankheitserreger oder irgendwelche mörderischen Chemikalien. Manche behaupten, man habe sie an Wildtieren ausprobiert. Andere sagen, an Nomadengruppen, die sich nicht registrieren lassen wollten. Aber niemand betritt diese Orte mit der roten Markierung, nicht mal die Armee. Manchmal finden die Leute etwas: Kanister am Boden oder eine Schafherde, die aus unerfindlichen Gründen verendet ist, und dann kommt das Militär, erklärt die Gegend zum neuen Sperrgebiet, stellt Schilder und manchmal sogar Zäune auf.«
    Shan sah erst Nyma und dann den stämmigen Bauern an. »Habt ihr das zusammen mit den purbas geplant? Diese Salzkarawane?«
    Lhandro lächelte. »Mein Dorf hat schon immer eine Karawane zum Lamtso geschickt, jeden Frühling. Die purbas haben davon erfahren«, sagte er mit Blick zu Nyma. »Sie sagten, auf diese Weise würden du und der Stein kein Aufsehen erregen.«
    Er gesellte sich zu den anderen, um bei der Arbeit an den Salzsäcken zu helfen. Nyma ging zwischen den Zelten umher, murmelte sanft und ehrfürchtig vor sich hin und richtete die Gebetsfahnen, die an den Zeltschnüren hingen. Dann nahm sie neben der vom grauen Star geplagten dropka Platz und fing an, ihre

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