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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Chinesen ermutigten junge tibetische Studenten zu solchen Namensänderungen.
    »Hat dieser Mönch mit dir über den Mord gesprochen?« fragte Shan. Er mußte an den Ritt nach dem Zusammentreffen mit dem Minibus denken. Nyma war ungewöhnlich ruhig geblieben und hatte beim Anblick weiterer Gänseschwärme im Gegensatz zu Lokesh keinerlei Begeisterung mehr erkennen lassen.
    »Nur kurz.«
    Nyma blickte zu Boden. »Es war eine sehr gewaltsame und blutige Tat. Chao wurde hinterrücks erstochen. Es ist in einem ehemaligen Stall passiert, der heute als Garage genutzt wird. Am Stadtrand, vorgestern abend.«
    Shan starrte sie an.
    »Ist das wichtig?«
    »Ungefähr zur gleichen Zeit wurde vermutlich Drakte verletzt«, erklärte er. »Die Wunde, an der er gestorben ist, wurde ihm viele Stunden vorher zugefügt, womöglich sogar schon am Abend zuvor.«
    Nyma stiegen Tränen in die Augen, und sie wandte sich kurz ab und sah auf den See hinaus. »Das weißt du nicht mit Bestimmtheit«, sagte sie.
    »Nein«, räumte Shan ein. Aber er war sich fast sicher. Während seiner Pekinger Inkarnation hatte er viele Stichwunden gesehen.
    »Drakte? Drakte!« stieß jemand hinter Shan keuchend hervor. Er drehte sich um und sah, daß die Frau mit der bunten Schürze eine Hand vor den Mund geschlagen hatte. »Unser Drakte!« rief sie, und die anderen dropkas in Hörweite rückten näher, um die Neuigkeit zu erfahren, die sie ihnen nun mit leiser, verzweifelter Stimme mitteilte.
    Geduldig beantwortete Shan die Fragen über den Tod des purba , und stellte dann selbst einige Nachforschungen an.
    »Erst letzte Woche war er noch hier, hat mit uns geredet, uns Fragen gestellt und mit den Kindern gespielt«, sagte die Frau. »Eines Nachmittags hat er alle Kinder zusammengerufen und auf einem Hügel einen neuen Steinhaufen errichtet.«
    Shan folgte ihrem Blick zu einer hohen grasbewachsenen Kuppe in mehreren hundert Metern Entfernung, die von einem kleinen Steinturm gekrönt wurde. Langsam ließ die Frau sich auf einen Felsblock am Feuer sinken.
    »Was für Fragen? Was wollte Drakte wissen?«
    Shan hockte sich neben die Frau.
    »Wie viele Schafe und Ziegen wir haben«, sagte sie tonlos. »Wer Yaks besitzt und wer Ziegen. Wo das nächste Gerstenfeld liegen könnte. Wieviel Futter wir für den Winter schneiden.«
    Gerste. Shan starrte erst die Frau, dann Lhandro und Nyma an. Der Abt und der Direktor des Büros für Religiöse Angelegenheiten hatten Gerstenfelder gezählt. Und das auf den Weiden der Changtang, wo überhaupt keine Gerste wuchs. Er lief zu seiner Decke, entrollte sie und nahm daraus den Beutel, den die dropka durch den Sturm gebracht hatte. Gemeinsam blätterten sie in Draktes Buch, bis sie kurz vor dem Ende auf eine Seite mit dem Datum von letzter Woche stießen, welche die Überschrift Lamtso Gar - Lager Lamtso - trug. Es gab eine Spalte für Gerste, versehen mit der Zahl Null, und andere für Schafe, Yaks und Ziegen.
    »Wir leben fast das ganze Jahr hier«, erklärte die Frau. »Alle anderen kommen bloß, um sich Salz zu holen.«
    Sie deutete mit sichtlichem Stolz auf die Ziffern. Ein Yak, achtzehn Schafe, fünf Ziegen lautete der Eintrag für Lamtso Gar. Und zwei Hunde.
    Wenn die Sammlung solcher Daten schon bei dem Abt und einem leitenden Schreihals keinen Sinn ergab, dann erst recht nicht bei Drakte. Doch Drakte hatte die Daten nicht nur festgehalten, sondern sich zudem beglaubigen lassen. Am Fuß der Seite standen Unterschriften und darunter eine kurze Notiz, die nach Shans Ansicht erst später hinzugefügt worden war. Letztes Jahr, hatte Drakte geschrieben, sei hier ein zweijähriges Mädchen verhungert.
    Shan überflog die folgenden Seiten und deutete auf mehrere Einträge, die keine Unterschriften, sondern nur Kreise oder Kreuze trugen.
    »Sogar wer nicht schreiben konnte, mußte unterzeichnen«, erläuterte die Frau. »Er bestand darauf, daß es für jede Familie und jedes Heim einen eigenen Eintrag geben würde. Und er hat schlimme Dinge gesagt, bis die Leute endlich ihr Zeichen gemacht hatten«, fügte sie mit leiser, verwunderter Stimme hinzu.
    »Schlimme Dinge?«
    Sie senkte den Kopf, als sei es ihr peinlich. »Er war müde und besorgt. Er war ein guter Junge.«
    »Was für Dinge?« fragte Shan erneut.
    Die Frau starrte zu Boden und flüsterte dermaßen leise, daß Shan sich vorbeugen mußte, um sie zu verstehen. »Er hat gesagt: Unterzeichnet oder all eure Kinder werden euch später hassen.«
    Sie erschauderte und

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