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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Der alte Mann stand zögernd auf, suchte in seiner Tasche und legte der Frau dann das Fossil in den Schoß. »Es ist ein machtvolles tonde« , sagte er. »Vom Lamtso.«
    Doch sie schien ihn nicht zu hören oder seine Geste auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Ihre Augen wichen nicht mehr von dem Pfad ab, während Shan, Lokesh und Dremu die Hügelkuppe überquerten.
    »Na sicher«, sagte der golok. »Der, der alles versteht. Sie wartet auf Onkel Yama, er ist derjenige, der alles begreift.«
    Dremu meinte Yamantaka, den Herrn der Toten. »Was für eine Verschwendung von Wasser und Proviant. Sie will es eben auf diese Weise zu Ende bringen. Verflucht, bei all den Leoparden und Wölfen in dieser Gegend wird man sie nicht einmal zu den Leichenzerlegern tragen müssen.«
    Er stieg auf sein Pferd und trabte in Richtung Norden davon, immer noch darauf bedacht, einigen Abstand zu der Karawane zu wahren.
    Das Bild der schwachen Frau, die allein auf der Flanke des Hügels saß, verfolgte Shan noch fast den ganzen Tag, während sie sich auf verschlungenen Wegen zu dem Paß in der zweiten der vier Bergketten emporarbeiteten, die sie von Yapchi trennten. Die Frau hatte auf jemanden gewartet, der aus Süden kommen würde, und zwar auf dem schwierigen Pfad entlang der Kammlinie. Wenn überhaupt jemand aus dieser Richtung kam, dann höchstwahrscheinlich kein Heiler.
    Als sie mittags rasteten, breitete Lhandro seine zerfledderte Karte auf einem flachen Stein aus und fuhr mit dem Finger die Strecke entlang, der sie für die noch verbleibenden hundertzehn Kilometer zum Tal von Yapchi folgen wurden. Es war nicht die kürzeste Verbindung, sondern ein entlegener Pfad, der fernab der Nord-Süd- Straße und sogar abseits der wenigen flachen Täler verlief, in denen am Rand der Changtang einige Bauerndörfer lagen. Auf diese Weise dürften sie zwei oder drei Tage länger benötigen als die traditionellen Salzkarawanen auf der sonst üblichen Route, erklärte Lhandro, aber dafür sei auch nahezu garantiert, daß niemand sie bemerken würde. Shan war nicht entgangen, daß Nyma mehrere Male mit dem rongpa gesprochen, dabei nach Süden gedeutet und den Horizont abgesucht hatte. Als Lhandro die Karte zusammenfaltete, entdeckte Shan auf einem Sims eine einsame Gestalt, die ebenfalls nach Süden schaute. Lokesh scherzte bisweilen, daß Tenzin anscheinend all den Dungfladen nachtrauerte, die sie auf ihrer Reise am Wegesrand liegenließen, doch Shan sah die Sorge, von der das Gesicht des stummen Tibeters gezeichnet war, und mußte an die Qualen denken, die der Mann bei Draktes Tod empfunden hatte.
    Als Shan sich ihm näherte, versuchte Tenzin, von dem Sims nach unten zu steigen, doch Shan legte ihm eine Hand auf den Arm und hielt ihn zurück. »Hat Drakte dir geholfen, aus dem Gefängnis zu fliehen?« fragte er. Tenzin wollte ihm mit gereiztem Blick ausweichen, doch Shan ließ es nicht zu und sah ihn ruhig an, bis der Zorn des Tibeters sich legte. Tenzin nickte ernst und machte sich von Shan los.
    Nach einer weiteren Stunde kamen sie um eine Biegung und sahen mitten auf dem Pfad Dremu warten, der lässig im Sattel saß und mit dem Messer, das die purba-Läuferin Somo ihm gegeben hatte, gemächlich einen Apfel zerteilte.
    Shan eilte an die Spitze der Kolonne.
    »Der Paß ist blockiert!« rief der golok laut, als zöge er es vor, daß niemand ihm zu nahe kam. »Eine Lawine.«
    »Wohl kaum«, rief Lhandro genauso laut zurück. »Auf dem Hinweg war noch alles frei. Wir haben dort Vorräte und Futter für die Tiere versteckt. So hoch in den Bergen wächst kein Gras.«
    »Durch die Frühlingsschmelze sind ein paar Hänge abgerutscht. Da oben liegen jetzt sechs Meter Schnee«, verkündete Dremu und wies auf den Paß, der noch einige Kilometer entfernt lag. Die Umrisse konnte man erkennen, aber die Einzelheiten blieben im Schatten niedriger Wolken verborgen. Als Shan dem rongpa das Fernglas gab, musterte Lhandro jedoch nicht etwa den Paß, sondern einen anderen, nach Osten abzweigenden Pfad, der um den höchsten der Gipfel herumführte. Er mißtraute den Motiven des golok und hielt nach unwillkommenen Fremden Ausschau, begriff Shan. Nach einem langen Moment sah der rongpa den golok mit mürrischem Stirnrunzeln an und bedeutete der Karawane dann, weiter nach Norden zu ziehen.
    Dremu wich an den Rand des Wegs aus und sah mit verdrossener Miene dabei zu, wie die Kolonne an ihm vorbeizog. Dann riß er sein Pferd herum und galoppierte auf dem Kamm eines niedrigen

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